Anlässlich des 80. Geburtstages von Otmar Issing hat das Center for Financial Studies (CFS) einen Sammelband mit dem Titel „Der Euro in stürmischen Zeiten“ herausgegeben. Darin sind ausgewählte Kommentare und Beiträge zur Wirtschafts- und Währungspolitik abgedruckt, die Issing während seiner Präsidentschaft am CFS veröffentlicht hat. Im Jahr 2006 wurde Otmar Issing mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet. Die Rede, die er bei der Preisverleihung gehalten hat und die wir nachfolgend dokumentieren, ist ebenfalls im Sammelband erschienen.

»Die Nachricht von der Entscheidung der Jury, mir den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik zu verleihen, hat mir Freude und Ehre, aber gleichzeitig auch einiges Kopfzerbrechen bereitet. Seit langem, im Grunde seit den ersten Einsichten in die Welt der Ökonomie, identifiziere ich mich mit dem Anliegen, eine Ordnung für Wirtschaft und Gesellschaft zu gestalten, die den Menschen ein Leben in Freiheit und Wohlstand gestattet. Welche Ehre, am Ende eines langen Berufslebens eine Auszeichnung für den eigenen bescheidenen Beitrag entgegennehmen zu dürfen, die den Namen des Mannes trägt, der nach wie vor als Symbol für diese Mission steht. Es war mir vergönnt, noch mit Ludwig Erhard im ganz kleinen Kreis zu diskutieren. Am lebhaftesten bleibt mir in Erinnerung, wie er sich selbst durch eine starke Erkältung nicht vom Rauchen seiner dicken Zigarre hat abhalten lassen.

Nun zum Kopfzerbrechen: Ich bin zwar gewohnt, hie und da eine Rede zu halten, und es mangelt bestimmt nicht an Themen. Ganz im Gegenteil: Wo gäbe es einen gegebeneren Anlass, all den aufgestauten Verdruss über die schier endlose Kette wirtschaftspolitischer Versäumnisse und Missgriffe zu entladen, als bei dieser Gelegenheit? Darüber hinaus unterliege ich jetzt nicht mehr dem Gebot, mit Kritik zurückzuhalten, um die Institutionen, die ich lange vertreten habe, nicht unnötig in fruchtlose Konfrontationen zu verwickeln. Wo aber anfangen, wo aufhören?

Der Niedergang des ordnungspolitischen Denkens

Das von mir gewählte Thema enthält eine These und eine Frage. Die These lautet: Die Wirtschaftspolitik in Deutschland verabschiedet sich von der Ordnungspolitik. Die Frage heißt: Ist dieser Abschied unaufhaltsam?

Bedarf die These überhaupt einer näheren Begründung, ist die Beweislage nicht geradezu erdrückend? Behauptet noch jemand ernsthaft, das deutsche Gesundheitswesen könne als zukunftsfähiges System bezeichnet werden und die Maßnahmen der Politik folgten einem ordnenden Gedanken? Ein anderer Kandidat für diesen Befund, der auf dieser Liste nicht fehlen darf, ist die Steuerpolitik. Wer kennt sich noch aus im Dickicht einer horrenden Zahl von Einzelbestimmungen, wer vermag die Anreiz- und Abschreckungswirkungen noch zu überblicken? In ihrem Bemühen, „Gerechtigkeit“ herzustellen, hat die Politik längst ein Monster geschaffen. Es genügt, ein beliebiges Gesetz aufzuschlagen, und die Überfrachtung mit nicht selten ans Komische grenzenden Bestimmungen sticht ins Auge. Beispielsweise gibt es unterschiedliche Mehrwertsteuersätze für Pferde, Maulesel und Wildpferde. Um mit Juvenal zu sprechen: Difficile est satiram non scribere.

Die Aporie der Wirtschaftspolitik in Deutschland wird jedoch nirgendwo offenkundiger belegt als am Arbeitsmarkt, als in Persistenz und Struktur der Arbeitslosigkeit. Die Lenkungsdefizite sind hinreichend bekannt und in Bergen von Studien und Empfehlungen nationaler und internationaler Institutionen dokumentiert. Eine interventionistische Wirtschaftspolitik versucht mit einer Abfolge von Ad-hoc-Maßnahmen auf jeweils neue Befunde oder Einzelprobleme zu reagieren, häufig unter Einsatz von erheblichen Mitteln, die nicht zuletzt von den Beschäftigten aufgebracht werden müssen und die die Steuerschraube weiter nach oben drehen. Als Folge werden Anreize zur Arbeitsaufnahme verringert, die Schwarzarbeit wird attraktiver – ein Anlass, um auf das selbst erzeugte Übel mit wiederum teuren Überwachungsmaßnahmen zu reagieren.

Der in den USA zum linken Spektrum zählende Ökonom Paul Krugman hat seinem Sarkasmus freien Lauf gelassen: „Das moderne deutsche Wirtschaftswunder ist die Tatsache, dass angesichts des Niveaus von Löhnen, Sozialleistungen und Regulierungen überhaupt noch Jobs übriggeblieben sind.“

Der Mangel an ordnungspolitischer Orientierung offenbart sich aber nicht nur in Teilbereichen, sondern ganz besonders in der fehlenden anreizkompatiblen Verzahnung der einzelnen Gebiete. Es gab einmal eine Zeit, in der jetzt der Hinweis auf Walter Eucken und seine Interdependenz der Ordnungen von jedermann erwartet wurde. Es spricht Bände, wenn dieser Verweis heute bestenfalls ein müdes Lächeln hervorruft. Idee und Begriff selber sind aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit verschwunden. Das Phänomen und seine fundamentale Bedeutung lassen sich durch simple Verdrängung freilich nicht eliminieren.

Der interventionistische Aktionismus ist bankrott. Der deutlichste Beleg dafür ist die Tatsache, dass Politiker glauben, die Bürger durch Mahnungen davon abhalten zu müssen, die angebotenen finanziellen Anreize auch auszuschöpfen, die vorher in Gesetzen kodifiziert wurden. Hier entlarvt sich im Übrigen das Grundproblem einer Politik, die den Gesamtzusammenhang aus dem Auge verloren hat. Der Wert und der Erfolg einer marktwirtschaftlichen Ordnung liegt darin, den Individuen Rahmenbedingungen vorzugeben, die am Einzelinteresse orientiertes Handeln in den größten Nutzen für die Gesellschaft umsetzen. Adam Smith lässt grüßen! Entscheidend sind dabei die Motivation und das Verhalten der Einzelnen.

Die Unterwanderung der Privatautonomie provoziert mehr Bürokratie

Über die vielfältigen Fehlanreize im heutigen System sind schon viele Bücher geschrieben worden, aber neues und großes Ungemach ist bereits unterwegs. Es trägt den verharmlosenden Namen „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“. Wollte man den Inhalt bzw. die absehbare Wirkung des Gesetzes korrekt beschreiben, müsste der Titel in etwa lauten: „Gesetz zur drastischen Einschränkung der Privatautonomie“.

Wer würde sich ernsthaft dem Anliegen verweigern, niemanden zu diskriminieren und alle Bürger gleich zu behandeln? Ich will nicht die rasch ins Philosophische drängende Frage aufwerfen, was denn „gleich“ bedeuten könnte und was daraus für das konkrete Handeln folgen müsste. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Politik wieder einmal der Illusion unterliegt, mit einem entsprechend titulierten Gesetz werde auch das identifizierte Problem gelöst. In der rauen Wirklichkeit werden jedoch ganz andere Wirkungen eintreten. Clevere Individuen werden die Vorschriften ausbeuten, nicht zuletzt, indem sie sich das Klagerecht abkaufen lassen. Und auf der Seite der Arbeitgeber und Hauseigentümer werden rechtlich belastbare Abwehrstrategien entwickelt. Die Kosten der Bürokratie steigen weiter, mögliche Aktivitäten werden im Zweifel eingeschränkt oder ganz unterlassen. Vorhaben im Mietwohnungsbau werden beispielsweise neu überdacht und möglicherweise eingestellt.

Die Reaktionen der Politik sind ebenfalls vorhersehbar: Es wird nicht an Vorstößen fehlen, die Lücken im Gesetz durch zusätzliche Bestimmungen zu schließen. Das Hauptanliegen – der Schutz der Schwachen – wird auf diesem Wege nicht erreicht werden. Von der deutschen Verschärfung des Gesetzes einmal abgesehen, trifft man weithin auf Schulterzucken und den Hinweis: Wir müssen die Direktive aus Brüssel umsetzen. Als ob dies den Fall besser machte. Ganz im Gegenteil! Zum einen kommt kein wichtiger Beschluss in Brüssel ohne deutsche Zustimmung zustande, und zum anderen belegt dieses Beispiel nur, dass die im Thema angelegte These auch vor Brüssel nicht Halt macht. Das ist ein nicht gerade beruhigender Gedanke.

Der Verfall ordnungspolitischen Denkens lässt sich in Deutschland nachdrücklich im Umgang mit dem Begriff und der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft beobachten, der die offenen Gegner abhandengekommen sind und die von falschen Freunden geradezu umschlungen wird. Das ist so ziemlich das Schlimmste, was ihr geschehen konnte. Das Epitheton „Sozial“ war von Anfang an der Januskopf in der Konzeption. Auf der einen Seite machte es die Verpflichtung des Staates deutlich, über die auch sozial positiven Wirkungen des Marktes hinaus sich um die schwachen Mitglieder der Gesellschaft zu sorgen, und trug damit erheblich zur politischen Akzeptanz bei. Auf der anderen Seite öffnete sich hier eine weite Tür für alle möglichen Vorstellungen und Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, die mit einer freiheitlichen Ordnung immer weniger vereinbar sind. Auf eben diese soziale Gerechtigkeit berufen sich jedoch heute alle möglichen Gruppierungen und usurpieren damit die Konzeption als Ganzes.

Die gegenwärtige Debatte um Mindestlöhne belegt das ganze Ausmaß wirtschaftspolitischer Desorientierung. Die Warnungen vor den absehbaren schädlichen ökonomischen Wirkungen und den am Ende auch negativen sozialen Folgen verhallen mehr und mehr ungehört.

Schwindende Moral in der Gesellschaft

Interventionistische Eingriffe werden häufig und in zunehmendem Maße mit dem Streben nach größerer sozialer Gerechtigkeit begründet. Wie von Hayek jedoch überzeugend nachgewiesen hat, liegt es in der Natur der letztlich auf Einzelfallgerechtigkeit bedachten Politik, dass sie ihr Ziel nicht erreichen kann, aber mit ihren Maßnahmen die Grundlagen einer freiheitlichen Ordnung gefährdet und am Ende zerstört. Je größer die Kluft zwischen staatlichem Aktionismus sowie Versprechungen auf der einen Seite, anschließendem Versagen und folglich enttäuschten Erwartungen auf der anderen Seite, desto größer der Verlust an Vertrauen in den Staat und die Politik. Es kommt nicht von ungefähr, dass der Begriff „Reform“ durch ständigen Missbrauch für interventionistischen Aktionismus zunächst seines positiven Inhalts sukzessive beraubt wird und schließlich in ein eher Schrecken verbreitendes Motto degeneriert.

Auf der Ebene der Individuen untergräbt die Schaffung immer neuer Ansprüche auf soziale staatliche Leistungen nach und nach die Moral der Gesellschaft. Wer bleibt schon immun, wenn ringsherum – durchaus im gesetzlichen Rahmen – die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten und staatlichen Hilfeleistungen ausgenutzt werden? Warum nicht selbst legitime Ansprüche geltend machen? Wie sehr es sich hier um eine über die Zeit konstante Variable menschlichen Verhaltens handelt, sagt uns schon Sallust: „Wo den Schlechten Prämien zufallen, ist nicht leicht einer umsonst gut.“ Fast zwangsläufig bleibt die Einstellung der Leistungsträger von dieser Veränderung des gesellschaftlichen Klimas nicht unberührt. Ihnen geht mehr und mehr das Verständnis dafür ab, mit ihren Steuern einen wesentlichen Teil dieser staatlichen Leistungen zu finanzieren. Gerade in einer alternden Gesellschaft droht die Gefahr, dass sich die jungen Eliten dieser als Ausbeutung angesehenen Belastung entziehen und ihre Zukunft außerhalb Deutschlands suchen.

Die Grenzmoral bestimmt dann mehr und mehr das allgemeine Verhalten. Es ist undenkbar, dass eine Gesellschaft, die diesem Erosionsprozess ausgesetzt ist, ihre produktiven Möglichkeiten ausschöpft und auf Dauer auch nur den erreichten Wohlstand bewahren kann.

Ein scharfsinniger Beobachter wie Alexis de Tocqueville hat die Gefahren schon früh erkannt und 1835 in seinem Buch „Über die Demokratie in Amerika“ dargelegt. In dem Kapitel mit der vielsagenden Überschrift „Welche Art von Despotismus die demokratischen Nationen zu fürchten haben“ warnt er: „Der Souverän breitet (…) seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes aus; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz verwickelter, äußerst genauer und einheitlicher kleiner Vorschriften, die die ursprünglichsten Geister und kräftigsten Seelen nicht zu durchbrechen vermögen, um sich über die Menge hinauszuschwingen; er bricht ihren Willen nicht, aber er weicht ihn auf und beugt und lenkt ihn; er zwingt selten zu einem Tun, aber er wendet sich fortwährend dagegen, dass man etwas tue; er zerstört nicht, er hindert, dass etwas entstehe; er tyrannisiert nicht, er hemmt, er drückt nieder, er zermürbt, er stumpft ab, und schließlich bringt er jedes Volk soweit herunter, dass es nur noch eine Herde ängstlicher und arbeitsamer Tiere bildet, deren Hirte die Regierung ist.“

Unaufhaltsamer Verfall des ordnungspolitischen Denkens?

Die wenigsten werden von meinen Ausführungen überrascht sein. Andere, die eher nicht so häufig Besucher einer Veranstaltung zur Verleihung eines nach Ludwig Erhard benannten Preises sind, werden sich denken: Das kommt davon, wenn man einen Neoliberalen über Wirtschaftspolitik sprechen lässt. Bedenken Sie, dass ich – ob zu Recht oder Unrecht bleibe dahingestellt – zudem auch noch als „Monetarist“ gelte. Damit verkörpere ich eine Position, die mich zu einem unverbesserlichen Dogmatiker oder noch Schlimmerem stempelt.

Nun habe ich meine anfängliche wirtschaftspolitische Naivität als Wissenschaftler nicht zuletzt nach zahlreichen weitgehend erfolglosen Gutachten und Ähnlichem längst verloren. Zynismus ist mir zu billig, und Resignation entspricht weder meinem Naturell noch meiner Überzeugung. Karl Popper hat mich mit seinem Argument überzeugt: Das Leben sucht nach besseren Lösungen – seien die Wege auch alles andere als gerade und die Umwege verschlungen und lang.

Doch damit eile ich dem Gedankengang voraus. Will man urteilen, ob der Verfall der Ordnungspolitik unaufhaltsam ist oder nicht, muss man erst nach den Ursachen für den Niedergang fragen. Hier ist im Grunde schon alles gesagt. Ich brauche nur an Joseph Schumpeter oder Anthony Downs zu erinnern, die das Spannungsverhältnis zwischen Marktwirtschaft und politischer Demokratie analysiert haben. Inzwischen füllen einschlägige Untersuchungen ganze Bibliotheken. Die Versuchung, in Wahlen immer mehr zu versprechen, als der Markt – und sehr oft man selbst – halten kann, ist permanent und übermächtig. Der Einfluss der Medien, insbesondere des Fernsehens, steigert diesen Effekt um Dimensionen. Um es kurz zu machen, lassen Sie mich einen früheren deutschen Bundeskanzler zitieren, den ich des Öfteren habe sagen hören: „Ich will Wahlen gewinnen und nicht den Ludwig-Erhard-Preis.“ Und zweifelsohne hat er viele Wahlen gewonnen.

Ist der Verfall also doch unaufhaltsam? Wir alle kennen die Geschichte vom aufhaltsamen Aufstieg des Arturo Ui. Ich denke, wir können uns darauf verständigen, dass prinzipiell niemand und nichts unaufhaltsam ist, sowenig wie es eine Zwangsläufigkeit in der Geschichte gibt. Hat nicht erst vor gar nicht so langer Zeit jemand vom Ende der Geschichte gesprochen? Die Zukunft hat wohl zu allen Zeiten mehr Überraschungen parat als uns lieb sein kann.

„Der interventionistische Aktionismus ist bankrott. Der deutlichste Beleg dafür ist die Tatsache, dass Politiker glauben, die Bürger durch Mahnungen davon abhalten zu müssen, die angebotenen finanziellen Anreize auch auszuschöpfen, die vorher in Gesetzen kodifiziert wurden.“

Woher mag jedoch die Wende in der Wirtschaftspolitik kommen? Nach Mancur Olson dominieren in langen Friedenszeiten mehr und mehr die Verteilungskoalitionen – mit allen Konsequenzen für die Gestaltung der Wirtschaftspolitik. Nur in Ausnahmesituationen, insbesondere in Krisenzeiten und Katastrophen findet eine Gesellschaft den Mut und die Kraft, Gruppeninteressen zurückzustellen und die Ordnung der Wirtschaft zu gestalten. Das ist übrigens auch nicht eine unbedingt neue Erkenntnis. In seiner Geschichte des Peloponnesischen Krieges beschreibt Thukydides, wie die Athener nach der vernichtenden Niederlage bei Syrakus 413 vor Christus „in der großen Angst des Augenblicks, wie das Volk pflegt, zu jeder Selbstzucht bereit waren“. Schon bald, nachdem die äußere Bedrohung entfallen war, stellten sich die gewohnten Verhaltensweisen bei Bürgern und Politikern wieder ein.

Aus deutscher Sicht darf hier der Hinweis auf die Reformen von 1948 nicht fehlen, auch wenn man nicht vergessen sollte, wie knapp damals die Entscheidung ausfiel. Die Stunde der Wiedervereinigung war so gesehen zumindest theoretisch eine einmalige Chance – die Bewahrer des westdeutschen Status quo an vorderster Stelle standen dem von Anfang an entgegen.

Muss also die Bundesrepublik den vollen Weg des Niedergangs zu Ende gehen, bevor Besserung in Sicht ist? Es fällt alles andere als leicht, diesem Pessimismus überzeugend entgegenzutreten. Man mag an das Beispiel Großbritannien erinnern, doch sollte man nicht vergessen, dass besondere außenpolitische Umstände hinzukommen mussten, um Margaret Thatcher eine weitere Amtsperiode zu ermöglichen.

Appelle an die Politiker, weniger das Wohl der Partei und die eigene Karriere im Auge zu behalten, sondern das Gemeinwohl zu beachten, versprechen wenig Erfolg. Es sind doch genau die Mechanismen des politischen Alltags und der Wahlen, die den Verfall der Ordnungspolitik begründen. Missverstehen Sie daher bitte nicht meine Ausführungen als generelle Politikerschelte. Die Vertreter der „Public Choice“-Theorie, an ihrer Spitze der Nobelpreisträger James Buchanan, werden daher auch nicht müde, darauf zu verweisen, dass sich das Verhalten der Politiker nicht ändern wird, wenn die Spielregeln nicht von Grund auf neu justiert werden.

Weniger ambitiös, aber in die gleiche Richtung gehen Vorschläge, zum Beispiel stringente Budgetregeln oder steuerpolitische Grundsätze verfassungsmäßig zu verankern. Auch wenn dieses Bemühen einer Sisyphus-Arbeit gleicht, wäre doch eine vielleicht entscheidende Schlacht gewonnen, wenn der Zugriff auf privates Einkommen und staatlichen Kredit rechtlich bindend erschwert würde. Die Globalisierung könnte sich als Katalysator in diesem Prozess erweisen, da das Versagen, den globalen Herausforderungen durch interventionistische Einzeleingriffe begegnen zu wollen, doch immer rascher evident wird.

Auf einem Gebiet, das ich bisher mit Mühe ausgespart habe, hat sich weltweit die Überzeugung durchgesetzt, über institutionelle Vorkehrungen den Gefährdungen des politischen Prozesses vorzubeugen. Ich meine die globale Ausbreitung der Idee, der Notenbank Unabhängigkeit zu verleihen und sie mit einem klaren Mandat auf die Preisstabilität zu verpflichten. Die Notenbankgesetzgebung ist in vielen Ländern diesem Modell gefolgt. Niedrige Inflation, wie wir sie vorher Jahrzehnte nicht gesehen hatten, bestätigen den Erfolg dieser institutionenorientierten Politik. Man verkenne freilich nicht: Trotz aller Erfolge fehlt es nicht an Versuchen, den politischen Einfluss auf die Geldpolitik zurückzugewinnen. Nicht von ungefähr ist immer wieder der Vorwurf der mangelnden demokratischen Legitimation der Notenbanken zu hören.

Die Sicherung der freiheitlichen Grundordnung ist eine Daueraufgabe

Aus hohen Ansprüchen an die Konsistenz politischen Handelns und einem logischen Rigorismus heraus neigen Theoretiker dazu, die Widerstandskraft von Wirtschaft und Gesellschaft gegen staatlichen Dirigismus zu unterschätzen. Auch wenn ich nicht ironisch wie Paul Krugman von einem zweiten deutschen Wirtschaftswunder sprechen würde, so bekenne ich mich auch zu dieser Tendenz, wenngleich nach vielen Erfahrungen mein einschlägiger Hang deutlich abgenommen hat. Aber es bleibt zu registrieren: Deutschland hat für die Versäumnisse der Wirtschaftspolitik mit dürftigem Wachstum und hoher Arbeitslosigkeit in den letzten mehr als zehn Jahren einen immensen Preis bezahlt. Die positiven aktuellen Wirtschaftsdaten, so erfreulich sie auch sind, scheinen schon wieder neue Illusionen auszulösen. Die Sonne der Konjunktur wird jedoch nicht ewig scheinen, und im nächsten Abschwung werden die strukturellen Schwächen nur umso sichtbarer auftreten. Nicht zuletzt tickt die Zeitbombe der demographischen Entwicklung in immer schnellerem Takt.

Die Grundlagen einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung wiederherzustellen und zu sichern, bleibt eine Daueraufgabe. Die Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft mit dem politisch und moralisch gebotenen sozialen Ausgleich zu verbinden, gleicht immerwährend einer Gratwanderung. Wer sich dafür einsetzt, muss mit Spott und Ignoranz rechnen. Resignation hieße jedoch nur, das Feld den Gegnern kampflos zu überlassen.

Wie entgegnet doch der Arzt Rieux in Albert Camus’ Roman „La Peste“ dem Einwand, alle Erfolge bei der Bekämpfung der Pest seien immer nur vorübergehend? – „Toujours, je le sais. Ce n’est pas une raison pour cesser de lutter.“«

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otmar Issing, Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung, wurde im Jahr 2006 mit dem Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik ausgezeichnet. Die Preisrede ist erstmals erschienen in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik (2006), Heft 110, Seiten XIV–XIX.

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