Nachfolgend dokumentieren wir die Dinner-Speech, die Günther H. Oettinger, EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, am 4. Februar 2015 auf dem Berliner Symposion der Ludwig-Erhard-Stiftung zum Thema „Wohlstand für alle – Soziale Marktwirtschaft in Zeiten der digitalen Revolution“ gehalten hat.

»Ich finde es richtig, dass die ehrwürdige Ludwig-Erhard-Stiftung die Frage nach dem Verhältnis von Sozialer Marktwirtschaft und digitaler Ökonomie aufwirft. Klar ist: Die Buchdruckerkunst hat die Welt verändert, die Dampfmaschine hat die Welt verändert, die Erzeugung und die Nutzung von Strom haben die Welt verändert, die Automation seit Henry Ford hat die Welt verändert, ebenso die Einführung von Computern statt Lochkarten und jetzt das Internet. Der Ausbau der digitalen Welt wird eine vergleichbare Revolution mit sich bringen – mit dem Unterschied, dass die Buchdruckerkunst von Mainz Jahrzehnte brauchte, bis sie in die Welt kam, und dass die Automation schleichend eingeführt worden ist.

Amerika ist in der digitalen Entwicklung dominierend

Wann immer die Personalkosten zu hoch wurden, hat man Roboter oder Pneumatik und Automation geschaffen. Die digitale Revolution geht schneller – und sie muss schneller gehen! Die Geschwindigkeit des Wandels steigt rasant. Vor acht Jahren haben wir noch kein iPhone gekannt, und jetzt müssen wir die Frage erörtern, wie sich Steuerung, Kommunikation, Datenverarbeitung, Datenspeicherung und Datendienste in den nächsten Jahren ändern werden und welche Rolle dabei Europa einnehmen wird.

Die Entwicklung in der digitalen Welt war zunächst einmal von uns Europäern ganz ordentlich mitbestimmt, wenn man beispielsweise an Nixdorf oder die Mobilfunkgeräte von Bosch denkt. Aber Bosch hat diese Branche vor 15 Jahren eingestellt und Siemens vor zehn Jahren. Vor fünf Jahren war Nokia noch Weltmarktführer mit 50 Prozent Marktanteil. In der Kette der Wertschöpfung dominieren heute eindeutig die Amerikaner. Der Prozess ist zu unseren Lasten verlaufen, und die Europäer haben nur noch wenige Assets. Wir haben SAP und Ericsson, wir haben Alcatel-Lucent, wir haben starke Verlage, wir haben Start-Ups, wir haben Wissenschaft und Forschung. Aber die Dominanz der amerikanischen Unternehmen ist schon beachtlich. Dies sage ich mit vollem Respekt!

„Wir streben eine Digital-Union für die Europäische Union und ihre Partner wie den Westbalkan, Norwegen und die Schweiz an, letztlich für den gesamten europäischen Kontinent.“

Unsere These geht dahin, dass wir eine Europäisierung der digitalen Strategie benötigen, wenn wir ins Geschäft zurückkommen wollen. Wir streben eine Digital-Union für die Europäische Union und ihre Partner wie den Westbalkan, Norwegen und die Schweiz an, letztlich für den gesamten europäischen Kontinent. Sie werden fragen: „Warum?“ – Als ich vor 30 Jahren in den Landtag von Baden-Württemberg gewählt wurde, haben wir ein Landesdatenschutzgesetz für Baden-Württemberg bearbeitet. Und die Bremer haben zeitgleich ein Landesdatenschutzgesetz für Bremen bearbeitet. Heute zu glauben, dass Bremen oder Baden-Württemberg Daten schützen können, ist schlichtweg abwegig. Und auch 28 verschiedene datenschutzrechtliche Regelungen in den 28 EU-Mitgliedstaaten treffen nicht wirklich auf Akzeptanz. Regionale und nationale Datenschutzregeln können vielleicht als Verpflichtung für Behörden für den Amtseid von Beamten relevant sein, aber für die großen IT-Unternehmen, die digitalen Dienstleister, sind sie letztendlich in keiner Form relevant. Das hat jüngst die Änderung der AGB bei Facebook gezeigt.

Wenn wir 28 fragmentierte Datenschutzregeln behalten, dann geht derjenige, der Daten sammelt, verarbeitet, nutzt und verkauft, dorthin, wo die Datenschutzregeln am lockersten sind. Und wenn dann zeitgleich dort auch die Besteuerung niedrig ist, wie zum Beispiel in Dublin, dann hat er eigentlich ideale Verhältnisse: bringt seinen „Staubsauger“ mit und saugt die Daten Europas von überall ab, nimmt sie mit und verwertet sie.

Eine Digital-Union für die EU

Die Europäische Union steht auf vier Säulen: erstens die Friedensunion, zweitens die Wertegemeinschaft, drittens die Währung und viertens der Binnenmarkt. Wir haben einen Binnenmarkt für 510 Millionen Menschen, und er ist noch immer der größte Marktplatz der Welt. Vorangetrieben durch Jaques Delors haben wir einen Binnenmarkt für Waren und Güter nahezu vollendet: beispielsweise für Autos und Lastkraftwagen, für Maschinen, für Chemie, für Textilien, für Nahrungsmittel, für Bordeaux und Trollinger – aber eben nicht für digitale Dienste.

Wir haben noch keinen digitalen Binnenmarkt. Als der Binnenmarkt geschaffen wurde, hat man noch analog gedacht. Ein Binnenmarkt braucht Regeln und auch Transportwege, damit der Bordeaux von Bordeaux nach Berlin kommen kann, auf der Straße, per Luftfracht, auf der Schiene oder über die Wasserstraße. Wir haben perfekte Transportwege in der Europäischen Union, die die Grundlage für die Beförderung von Waren, Gütern und Menschen sind, und auch Bankdienstleistungen werden zunehmend im europäischen Binnenmarkt erbracht.

„Denn eine Eins-zu-eins-Übertragung der deutschen Gesetzgebung auf Europa, im Sinne einer Blaupause, wird sicherlich nicht möglich sein.“

Unser Ehrgeiz geht dahin, jetzt den digitalen Binnenmarkt zu vollenden und eine Digital-Union zu schaffen. Man könnte auch sagen, dass für diejenigen, die in den nationalen Regierungen verantwortlich sind – in dem Fall sind das Herr Gabriel oder Herr Machnig für die Inhalte, Herr Dobrindt für das Netz oder Thomas de Maizière für den Datenschutz –, der Hauptarbeitsplatz nicht mehr das Ministerium in Berlin oder Bonn ist, sondern der Rat der Europäischen Union. In Zusammenarbeit mit 27 Kolleginnen und Kollegen sollte hier an der Gestaltung europäischer Verordnungen und Richtlinien mitgewirkt werden. Und ich habe den Ministern vor drei Wochen genau diese Frage gestellt: „Seid Ihr bereit? Ich brauche den Rat!“ Regulation geht nur über den Gesetzgeber. Das Parlament in Straßburg macht mit, beim Rat ist die Antwort offen. Die kleinen Mitgliedstaaten wissen, dass sie alleine zu klein sind. Auch die großen sind zu klein, aber noch nicht alle sind sich dessen bewusst. Und von daher lautet die Frage an eine starke Regierung wie die aktuelle Große Koalition: „Seid Ihr willens, die Europäisierung der digitalen Regulation mitzumachen? Seid Ihr bereit, dafür einen Arbeitstag in Brüssel aufzuwenden? Seid Ihr bereit, Euch einzubringen in Kompromisse?“ Denn eine Eins-zu-eins-Übertragung der deutschen Gesetzgebung auf Europa, im Sinne einer Blaupause, wird sicherlich nicht möglich sein. Nur dann haben wir eine Chance, dann kann die Aufholjagd erfolgreich sein.

Die Bausteine für die Schaffung einer Digital-Union zeige ich Ihnen gerne kurz auf. Stichwort Infrastruktur: So wie Straßen, Schienenwege, Wasserstraßen und Lufttrassen notwendig sind, brauchen wir eine paneuropäische flächendeckende leistungsfähige Breitbandinfrastruktur und Satellitentechnik. Kein Dorf und kein Aussiedlerhof, der nicht eine Erschließungsstraße hat, sodass der Opa zum Friseur und die Schweinehälfte zum Metzger kommen können. Kein Dorf, das nicht an die Wasser- und Stromversorgung angeschlossen ist. Denn das ist, im Grunde genommen, die Lebensgrundlage unserer Wirtschaft und Gesellschaft, ist notwendig für Sicherheit, für die Produktion von Gütern und für Lebensqualität im Allgemeinen. Wir brauchen jetzt flächendeckend das schnelle Internet, das Breitband in jedem Aussiedlerhof, in jedem Gehöft! Denn die Steuerberaterin im Hochschwarzwald, die ihre Mandanten mit betriebswirtschaftlichen Auswertungen am Telefon und online berät, die Sozialabgaben untersuchen muss, die mit der Datev in Nürnberg kommunizieren muss, braucht das schnelle Internet – oder sie geht weg.

Der Metzgermeister mit Sitz in Kehl, der einen Auftrag im Elsass bekommt und daraufhin ein Angebot abgeben muss, eventuell auch eine Nachlieferung entgegennehmen muss, braucht, um dies zu verwirklichen, eine perfekte Infrastruktur von hoher Qualität. Auch Schulen sind ohne schnelles Internet undenkbar. Nirgendwo in Europa dürfen Anbieter und Kunden von qualitativ hochwertigen digitalen Diensten ausgeschlossen sein.

„So wie wir überall Strom haben, Wasserversorgung und Wasserableitung, so brauchen wir jetzt eine Erschließung mit dem schnellen Internet.“

Und es geht noch weiter. Heute waren die privaten Krankenversicherungen Europas bei mir zum Gespräch. Anschließend war der Verband der europäischen Fahrzeugbauer da. Zwei hoch spannende, wachsende Dienste: Gesundheitsdienste, mobil und elektronisch, und Verkehrsdienste. Navigation, Steuerung, Qualitätskontrolle, Reparatur an Fahrzeugen, das automatisierte Fahren oder Gesundheitsdienste können nur funktionieren, wenn es keine Funklöcher gibt.

Die Deutschen gehen viel zu oft zum Arzt. Je älter wir werden, desto mehr scheint das Wartezimmer unser Wohnzimmer zu sein. Würden wir mit einem Band am Arm über das Tablet oder den Computer vom Arzt begleitet werden, dann würde der Arzt sich melden, wenn er Sorge hat – und nicht umgekehrt. Überprüft werden könnten auf diese Weise zum Beispiel der Kreislauf und Herzschlag, die Arzneimitteleinnahme, die Ernährung sowie die Kalorienzufuhr und die Schlafdauer. Gefühlt krank sind wir oft. Aber die Fakten am Tablet mit dem Band sind die beste Form der Gesundheitssicherung unter guter Kosteneffizienz.

Das automatisierte Fahren macht nur Sinn, wenn man eben auch in Nebenstraßen und in ländlichen Räumen sicher sein kann, dass es funktioniert. Und deswegen haben wir einen riesigen investiven Bedarf, so wie damals beim Ausbau des Schienennetzes oder der Autobahnen. So wie wir überall Strom haben, Wasserversorgung und Wasserableitung, so brauchen wir jetzt eine Erschließung mit dem schnellen Internet.

Klärung der Kompetenzen zwischen Industrie und Gesetzgeber

Zurzeit besteht ein Kompetenz-Chaos. Jeder mischt ein bisschen mit. Für die Krankenhausfachförderung haben wir klare Richtlinien, wer Träger ist, wer Anträge stellen kann, wer co-finanziert, was der Markt macht und was die öffentliche Hand subventioniert. Für den Schulausbau, für städtebauliche Erneuerung ist es auch so. Aber für die Aufgaben im Zusammenhang mit einer schnellen digitalen Verbindung haben wir keine Kompetenzordnung. Wir müssen vertikal klarstellen: Was co-finanzieren Brüssel, Berlin, München, Biberach, was finanziert die öffentliche Hand und was nicht, was übernimmt die Telekom-Industrie?

Kommunikation macht nicht an den nationalen Gebietsgrenzen halt, und so sind es die Wirtschaftsräume, die wir brauchen. Und von daher brauchen wir auch eine europäisch abgestimmte Zeitplanung für den Ausbau, damit nicht die schnelle Kommunikation bis zur nationalen Grenze geht und dahinter versagt. Unsere nationalen Gebietsgrenzen stammen von Napoleon, dem Kongress von Berlin, der Konferenz von Versailles, der Konferenz von Jalta. Aber Napoleon hat von digitalen Dienstleistungen noch relativ wenig gewusst. Und da die Menschen längst im mobilen europäischen Arbeitsmarkt grenzüberschreitend unterwegs sind, brauchen wir im Land der Wirtschaftsregionen eine Kompetenzordnung, die besagt, wer was machen darf, und Beihilferichtlinien, damit das, was ein Bürgermeister macht, zumindest befristet erlaubt ist, und nicht, was an Co-Finanzierung gelingen kann, ordoliberal kritisch betrachtet wird.

Notwendigkeit einer Datenschutzverordnung

Einheitlicher gemeinsamer europäischer Datenschutz – die Datenschutzgrundverordnung ist die Grundlage dafür. Deutschland hat zwei Jahre nicht wirklich mitgemacht, da hat Edward Snowden geholfen. Und Thomas de Maizière ist sehr konstruktiv im Rat der Europäischen Union mit dem Ziel unterwegs, dass die Datenschutzgrundverordnung in diesem Jahr verabschiedet werden kann. Allerdings habe ich folgende Bitte: Die Deutschen neigen zu fundamentalen Positionen und sind beim Thema Datenschutz besonders sensibel aufgestellt. Das mag mit den Überwachungssystemen im Dritten Reich und der DDR zu begründen sein. Aber wer Daten perfekt schützen will, macht bestimmte Geschäftsmodelle unmöglich. Und eine ganz spannende Frage ist nun, wem die Daten ums Auto herum gehören und was man damit an Dienstleistungen anbieten kann. Sind sie Eigentum des Autofahrers, des Autoeigentümers oder des Autoherstellers? Denn da ist ein unglaubliches Geschäft absehbar. Hier müssen wir eigentumsrechtliche und nutzungsrechtliche Fragen klären, und wir müssen dann den Datenschutz konkretisieren und zum Teil Daten anonymisieren, das ist klar. Aber diese Daten nicht zu nutzen, wäre fatal! Denn sonst werden es andere tun. Und das Gute daran ist, dass man heute mit einer neuen Anwendung eine neue Dienstleistung starten und in fünf Jahren Weltmarktführer sein kann. Die digitale Ökonomie neigt zu Monopolen, weil der, der mit einer Dienstleistung als erster am Markt ist, sehr rasch 50, 70 oder sogar 90 Prozent der Umsätze erreichen kann – so wie das Google derzeit gelingt. Das Gute ist, dass die, die heute vorne sind, nicht automatisch noch in zehn Jahren vorne sind. Siemens, Daimler, BMW, VW, Audi, Bayer, BASF sind seit 100 Jahren dabei und seit 100 Jahren vorn. Das wird wahrscheinlich so bleiben. Aber die, die heute hinten liegen – also wir, die Europäer –, wir haben die Chance, durch eine kluge gemeinsame Strategie und durch die Bündelung der Kräfte in fünf bis zehn Jahren durch europäische Regulation im globalen Wettbewerb mit neuen Anwendungen ganz vorn dabei zu sein.

„Aber Datensicherheit wird in Europa mit einer hohen Intensität, einer klaren europäischen Kultur gewahrt.“

Nach Datenschutz und Aufbau der Infrastruktur kommt auch dem Thema Datensicherheit eine entscheidende Bedeutung zu. Und mit unserer Network-and-Information-Security-Richtlinie haben wir den ersten Aufschlag gemacht. Wir sollten den Ehrgeiz entwickeln zu sagen, die Systeme sind ein bisschen porös. Aber Datensicherheit wird in Europa mit einer hohen Intensität, einer klaren europäischen Kultur gewahrt. Wir bereiten derzeit ein Zertifikat, einen Qualitätsstandard, eine europäische Cloud vor, und wir sollten überlegen, ob man nicht eine Industrie-Cloud für europäische Industrieunternehmen entwickeln kann, die dann auch unseren Vorgaben der Datensicherheit entspricht. Generell muss die Frage lauten: Wie kommen wir zurück zu einer verstärkten digitalen Souveränität? Wie verringern wir die Importabhängigkeit und die Wertschöpfung außerhalb der EU? Wie kommen wir in den Wettbewerb auf Augenhöhe? Und was ist entlang der Wertschöpfungskette dann regulativ durch den Gesetzgeber und industriell durch die Wirtschaft zu tun?

Europa muss für den globalen Wettbewerb seine Kompetenzen bündeln

Die Amerikaner haben im amerikanischen Markt für 330 Millionen Menschen und mit nur einer Sprache vier Telekom-Dienstleister. Slowenien hat auch vier, Europa hat 280, wenngleich darunter viele Tochterbetriebe sind. Aber ich rate uns Europäern dringend, die Konsolidierung zu ermöglichen, weil der Markt längst nicht mehr nur der deutsche Markt ist, auch längst nicht mehr nur der europäische Markt ist, sondern der Weltmarkt steht im Vordergrund. Wir müssen die Frage besprechen, welchen Anteil am Weltmarkt Vodafone-Orange, Telefonica und Deutsche Telekom haben. Das mögen in Deutschland 30 bis 40 Prozent sein, in Europa 10 bis 15 Prozent, auf dem Weltmarkt aber nur 2 bis 3 Prozent.

Wir müssen die europäischen Unternehmen auch kapitalmäßig stärker werden lassen, damit sie in der Lage sind, beispielsweise in der Ukraine oder in der Türkei ein Netz aufzubauen, oder in Singapur eine Company zu übernehmen. Wir brauchen Global Player! Und von daher brauchen wir auch eine Strategie für die Telekom-Industrie und nicht mehr Netzeigentümer als -nutzer, wie es sich leider im Energiesektor weitgehend entwickelt hat. Dann geht es um die Telekom-Single-Market-Verordnung, die erste europäische Gesetzgebung diesbezüglich. Was machen wir auf dem Gebiet, was sind die sensiblen Punkte? Ich gehe nur auf drei ein. Und ich habe die Hoffnung, dass der Rat der Lettischen Präsidentschaft ein Mandat geben wird, damit endlich die Verhandlungen mit dem Parlament möglich werden und vielleicht eine Verabschiedung einer europäischen Telekom-Single-Market-Gesetzgebung in diesem Jahr kommen kann.

Das Denken in nationalen Grenzen überwinden

Einige Bereiche sind dabei sensibel, zum Beispiel das Roaming: Wenn es zu einem vollendeten europäischen digitalen Binnenmarkt kommen soll, dann können die Entgelte nicht mehr national bestimmt sein. In meiner Kindheit gab es Ortsgespräche ohne Vorwahl und Ferngespräche mit Vorwahl. Wenn Sie aber heute in Aachen leben und mit dem 30 Kilometer entfernten Eupen-Malmedy telefonieren und danach mit dem 500 Kilometer entfernten Garmisch-Partenkirchen, ist das zweite Gespräch kostengünstiger als das erste, weil es Auslandsgebühren und Zuschläge gibt. Meines Erachtens sollten die Entgelte allein von den investiven Kosten für die Leitungen und den operativen Kosten und damit auch von Entfernungen abhängen und nicht mehr an den Gebietsgrenzen kleben bleiben. Roaming ist ein Gebot! In Stufen die Regelung zu schaffen, scheint mir aussichtsreich zu sein.

Weiterhin ist das Thema Netzneutralität von Bedeutung. Und da will ich uns alle bitten, gewisse „Lockerungsübungen“ vorzunehmen. Ich weiß sehr wohl, dass die Netzgemeinde aus engagierten Staatsbürgern besteht, und sie will perfekte Netzneutralität. Die will ich auch im Prinzip – nur ist die Frage, ob es nicht Spezialdienste und Dienste im öffentlichen Interesse gibt, für die uns die Beförderung, die Qualität, die Kapazität noch wichtiger als alles andere sind. Gestatten Sie mir einen Vergleich: Wenn ein Familienvater mit zwei Kindern durch den Schwarzwald fährt, hinten rechts die Tochter, sechs Jahre alt, die sich von Youtube Musik herunterlädt, hinten links der Sohn, der ein paar Sportgames spielt, vorne links der Vater, der sich um die Navigation und das Fahren kümmert – wer davon hat Vorrang? Hinten rechts, hinten links? Ich rate im Interesse aller drei: vorne links, die Verkehrssicherheit!

Dasselbe gilt für Gesundheitsdienste. Und deswegen glaube ich schon, dass wir für die Nutzung des Netzes zum diskriminierungsfreien Zugang in der europäischen Gesetzgebung einen Qualitätsstandard definieren sollten, aber darüber hinaus für Dienste, die im öffentlichen Interesse liegen, wie zum Beispiel in den Bereichen Gesundheit und Verkehrssicherheit, einem höheren Level einen Vorrang einräumen sollten. Meine Bitte ist: Kämpfen Sie dafür! Die Schlacht ist noch längst nicht geschlagen. Und die Netzgemeinde ist hier ein respektabler Gegner, den man aber trotzdem mit Argumenten, so hoffe ich, überzeugen kann.

Datenschutz, Sicherheit und Copyright müssen gewährleistet sein

Ein weiterer Punkt ist die Frequenzausschreibung. In einem digitalen Binnenmarkt sind eigentlich nationale Ausschreibungen nicht mehr angezeigt. Trotzdem gehen wir jetzt in die nächste Auktion hinein und erhoffen uns davon Milliardeneinnahmen, damit man außerhalb des Haushalts Infrastruktur co-finanzieren kann. Aber ich sage Ihnen: Würden wir diese Frequenzen zeitgleich ausschreiben in Wirtschaftsräumen wie beispielsweise Belgien, Holland, Deutschland, Luxemburg, so wäre ein Mehrwert erzielbar. Auch hier gilt: Wer Frequenzen in fragmentierten Silos ausschreibt, handelt eigentlich nicht mehr im Interesse dessen, der danach als Nutzer die Anwendung haben soll.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wer die Daten hat, der hat die Macht. Daten sind die Währung der Zukunft. Google beantwortet derzeit etwa sechs Milliarden Anfragen pro Tag und liefert dann die Daten an die Nutzer, über das Wetter, über Lastminute-Reisen, über den Geburtstag von Ludwig Erhard. Aber indem sechs Milliarden pro Tag anfragen, bekommt Google von uns eine Vielzahl von Daten kostenfrei geliefert, speichert und verwertet sie. Hier sind unglaubliche Kräfte am Werk. Ich mag Amerika, und ich finde den Wettbewerb mit diesem Partner wichtig und spannend. Deswegen ist TTIP für mich ein Muss. Aber klar ist, dass die Amerikaner eine eindeutige Strategie zwischen Washington, D.C. und Silicon-Valley haben, nämlich im digitalen Bereich eine eindeutige Marktführerschaft zu gewährleisten, die dann auf traditionelle Industrien ausgeweitet wird.

„Und wenn es uns nicht gelingt, in der digitalen Welt ein digitales Urheberrecht zu schaffen und durchzusetzen, dann werden wir in den nächsten Jahrzehnten weiter auf Schiller und Shakespeare und Udo Jürgens angewiesen sein, …“

Ein weiterer Punkt, den ich ansprechen will, ist das Copyright, also die Frage, was urheberrechtliche Arbeit morgen noch wert sein soll. Nehmen wir einmal den Tageszeitungsredakteur, der recherchiert und kommentiert. Nehmen wir den, der Musik schreibt oder singt, den, der ein Drehbuch schreibt oder einen Film als Regisseur zu verantworten hat. Nehmen wir einfach geistiges Eigentum und intellektuelles Werk. Und wie bei allem im Leben ist es auch hier so, dass bei Abwesenheit eines Marktes und damit einer Verwertungsmöglichkeit die Arbeit ausstirbt.

Der Weinbauer baut Wein an, weil er ihn verkaufen kann und der Weinmarkt ein wertvoller Markt ist. Daimler baut Autos, damit die Firma Autos verkaufen kann, denn Daimler ist keine Caritas. Und wenn es uns nicht gelingt, in der digitalen Welt ein digitales Urheberrecht zu schaffen und durchzusetzen, dann werden wir in den nächsten Jahrzehnten weiter auf Schiller und Shakespeare und Udo Jürgens angewiesen sein, denn Nachfolger von diesen dreien werden nicht mehr in diesen beruflichen Sektor gehen, weil man dort nichts mehr verdienen kann und damit nicht mehr seinen Lebensunterhalt selber sichern, nicht mehr Karriere machen kann.

Wir brauchen eine faire Balance zwischen der Netzgemeinde, zwischen den Großhändlern und Transporteuren, den Verlegern und denen, die für die geistige Arbeit mit Kopf und Herz und Zeit verantwortlich sind. Wir haben den Ehrgeiz, im September einen Gesetzgebungsvorschlag zur Regelung des Urheberrechts zu machen. In diesen Tagen führen wir permanent Anhörungen mit allen Beteiligten durch. Und ich bin dabei sehr an Ihrem Input interessiert, auch an den Erfahrungen mit dem deutschen Leistungsschutzrecht. Vielleicht kann die Europäische Union die nötige Autorität und die rechtliche Kraft entwickeln, sodass sich jeder an unsere urheberrechtlichen Regeln halten muss. Nach dem Motto: ein Binnenmarkt, ein Wettbewerbsrecht, eine Wettbewerbskommissarin, ein Datenschutz und ein Copyright. Das sind zwei Seiten der gleichen Medaille. So zumindest sieht unser Anspruch aus.

Europa muss sich auf seine Stärken besinnen

Google, Apple, Facebook, Amazon und Microsoft, diese fünf Unternehmen allein haben einen Börsenwert, der doppelt so hoch ist wie der Börsenwert des DAX 30. BASF, Bayer, Siemens, VW, BMW, Daimler, Lanxess, Deutsche Telekom, EON, RWE, …, insgesamt 30 an der Zahl, sind halb so viel wert wie fünf Unternehmen, die es vor 30 Jahren noch gar nicht gab. Das zeigt deutlich die Dimensionen, in denen wir denken müssen. Und Amerika ist uns derzeit digital überlegen.

Aber ich male nicht schwarz. Wir brauchen jetzt sozusagen eine „digitale Airbus-Strategie“. Der Vergleich mag hinken: Aber hätte nicht Franz Josef Strauß damals die Idee gehabt, die fragmentierten Kräfte in den Bereichen Luft- und Raumfahrt in Europa vom Bodensee bis zum Vereinigten Königreich zu bündeln, so hätten wir heute nicht mit Airbus im Bereich Raumfahrt 30 Prozent und im Bereich Luftfahrt 50 Prozent Weltmarktanteil.

Wir sollten schauen, wo wir stark sind. Wir sollten schauen, wo unsere Assets liegen, und wir sollten die Kreativszene von Berlin nutzen und wir sollten alles tun, damit Berlin als ein Ort für digitale Wertschöpfung gestärkt werden kann. Wir müssen europäische Regeln finden, für einen Binnenmarkt und eine europäische Regulation. Und dafür brauche ich eine starke Bundesregierung. Die Kanzlerin macht mit. Es gibt keine Rede von ihr, bei der nicht das Thema digitale Revolution ein Schwerpunkt ist, so zum Beispiel bei der Beratung über den Kanzler-Etat, bei der Neujahrsansprache oder beim Arbeitgebertag. Und deswegen will ich Sie einladen: Kommen Sie öfter nach Brüssel, ich brauche Ihren Sachverstand und Ihre Stimme für eine europäische digitale Strategie, die in Brüssel entwickelt und im nächsten Jahrzehnt dann mit digitaler Souveränität auf Augenhöhe neben Amerika gesetzt werden kann!«

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