Der Mann, dessen Weg in die Politik vor siebzig Jahren mit seiner Ernennung zum Wirtschaftsminister in Bayern begann, ist heute eine entrückte Ikone. Blicken wir zurück auf Ludwig Erhard und eine ferne Zeit. Beginnen wir mit zwei Hinweisen, die ihm selbst bemerkenswert erschienen, als er sein Leben resümierte. Als er 1897 geboren wurde, habe der Spitzensatz der Einkommensteuer vier Prozent betragen. Und: Als Lehrling im Kaiserreich habe seine Wochenarbeitszeit bei 60 Stunden gelegen – das sei ihm gut bekommen.

Wirtschaftlich prägend für Ludwig Erhard war jedoch die Erfahrung der Hyperinflation und der Währungsreform 1922/23. Erst jetzt ging das Kaiserreich ökonomisch unter, wurde das Gros der nationalen Kriegsverschuldung abgewickelt. Die Eltern verloren ihren Kaufmannsladen, Ersparnisse und Alterssicherung waren dahin. Zusammen mit der Weltwirtschaftskrise trieb diese bittere Erfahrung – davon war Erhard überzeugt – die kleinen Leute scharenweise Adolf Hitler in die Arme. Die zweite prägende Erfahrung war das erste deutsche Wirtschaftswunder in den 1930er Jahren. Hitler erreichte mit seinem Staatsinterventionismus, seinem gigantischen Bau- und Aufrüstungsprogramm tatsächlich überraschend schnell die Vollbeschäftigung, während in den Vereinigten Staaten des „New Deal“ die Arbeitslosigkeit noch 1939 weit mehr als 20 Prozent betrug. Auch die Arbeiter neigten Hitler zu, weil sie hohe Überstundenzuschläge erarbeiten konnten. Allerdings herrschte ein staatliches Lohn- und Preisdiktat. Dieses Diktat verdeckte, dass die Ausweitung der Investitionstätigkeit und der sozialen Leistungen trotz hoher Steuern und brutaler Ausbeutung jüdischer Vermögen zu großen Teilen auf Pump und durch gewaltige Schuldenberge finanziert wurde. Es gab im Dritten Reich eine zunehmende, wenn auch versteckte, weil preisgestoppte Inflation – ganz ähnlich wie später in der DDR.

Erhard durchschaute das, er nannte das rückblickend ökonomisch „faulen Zauber“. 1943/44 hat er in seiner nach dem Krieg wiederentdeckten Denkschrift über „Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung“ Möglichkeiten der radikalen Beseitigung dieser Schulden erörtert. Diese Denkschrift schickte er auch Carl Goerdeler, einem der führenden Köpfe der Widerstandsbewegung – mit der Post. Weil Hitler jegliches Nachdenken über die Zeit nach dem Krieg schon vor Entstehung der Denkschrift bei Todesstrafe verboten hatte, hätte die schriftlich niedergelegte Form seines „Brainstormings“ für Erhard leicht fatale Folgen haben können. Doch er hatte Glück. Sein Papier geriet nicht in falsche Hände. Und bei Kriegsende half es ihm, als er sich den Amerikanern in seiner Heimatstadt Fürth als unbescholtener Wirtschaftsfachmann andiente. Unbescholten war er tatsächlich, auch wenn er sich im Krieg Gauleiter Josef Bürckel als Berater zur Verfügung gestellt hatte. Amerikanische Militärs beauftragten den Fachmann für Konsumforschung im April 1945 mit einer ökonomischen Bestandsaufnahme seiner Heimatstadt und machten ihn am 22.Oktober zum Staatsminister für Wirtschaft in München.

Die Verabschiedung des „Leitsätzegesetzes“

Die Hauptfrage für Erhard damals war: Wie kommen wir aus der desaströsen Wirtschaftslage? Hitler und die Nationalsozialisten hatten Deutschland nicht nur politisch, militärisch und moralisch ruiniert, sondern auch ökonomisch. Das wirkte fort. Es galt weiterhin eine rigide Bewirtschaftung, mehr als 500 Gesetze und Verordnungen regelten Rohstoffzuteilung, Produktion, Preise – und Bezugsmarken regelten die Verteilung des Mangels. Schwarzmarkt und Tauschhandel mit Zigaretten als Hauptzahlungsmittel prägten die Nachkriegsnotzeit bis zum 20. Juni 1948. Denn erst an diesem Tag ging das Dritte Reich auch ökonomisch unter, als die von den Amerikanern gelenkte Währungsreform mit der Einführung der D-Mark in Kraft trat. Parallel dazu schaffte Ludwig Erhard als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in Frankfurt – in diese Schlüsselposition war er durch Zufall und die Unterstützung von FDP und CDU/CSU geraten – die allermeisten Bewirtschaftungsregeln mit ihren Bezugskarten, Zuteilungen und Preiskontrollen ab.

In jenem Sommer 1948 fuhr eine junge Journalistin und promovierte Volkswirtin von Hamburg nach Frankfurt am Main, um für die Wochenzeitung „Die Zeit“ die erste Pressekonferenz des neuen Direktors der Verwaltung für Wirtschaft im bizonalen Wirtschaftsrat zu besuchen. Ihr Eindruck von dem bis dahin gänzlich unbekannten Mann, von seinen neoliberalen Visionen war blankes Entsetzen. Marion Gräfin Dönhoff berichtete den Redaktionskollegen: „Wenn Deutschland nicht schon eh ruiniert wäre, dieser Mann mit seinem vollkommen absurden Plan, alle Bewirtschaftungen in Deutschland aufzuheben, würde das ganz gewiss fertigbringen. Gott schütze uns davor, dass der einmal Wirtschaftsminister wird. Das wäre nach Hitler und der Zerstückelung Deutschlands die dritte Katastrophe.“ Der Mann, vor dem sie warnte, war Ludwig Erhard, von 1949 bis 1963 Bundeswirtschaftsminister, anschließend drei Jahre Konrad Adenauers Nachfolger als Bundeskanzler. Der Zeitgeist war damals links, Vertrauen in die Marktkräfte kaum verbreitet. Nicht nur SPD und KPD setzten weiterhin auf umfassende Staatsintervention, staatliche Planung und Lenkung der Wirtschaft. Umso erstaunlicher, dass diese Wirtschaftsreform tatsächlich ins Werk gesetzt werden konnte, zumal Sozialdemokraten 1948 nahezu überall in Trizonesien den Wirtschaftsminister stellten und in großen Koalitionen mit der Union regierten.

Erhard und eine Handvoll Getreuer, konzeptionell gestärkt durch Ordoliberale um Friedrich August von Hayek, Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alfred Müller-Armack sowie gestützt auf die sich neu formierende Koalition im Frankfurter Wirtschaftsrat von Union und FDP und gedeckt durch die amerikanische Militärregierung unter Lucius D. Clay, waren jedoch überzeugt: Währungs- und Wirtschaftsreform mussten gleichzeitig beginnen, um sich, unterfüttert durch Kredite des Marshall-Plans, wechselseitig zu verstärken. In einer dramatischen Nachtsitzung verabschiedete der Wirtschaftsrat (das bizonale deutsche Vorparlament vor dem Parlamentarischen Rat) am 18. Juni das „Leitsätzegesetz“ – gegen erbitterten Widerstand von SPD und KPD. Dieses Schlüsselgesetz für die Einführung der Marktwirtschaft ermächtigte Erhard als Direktor der Verwaltung für Wirtschaft, die allermeisten Bewirtschaftungsregeln und Preisvorschriften parallel zur Währungsreform aufzuheben.

Erhard nutzte die Vollmacht sogleich. Die Liberalisierung und Freisetzung der Marktkräfte durch Wettbewerb wirkte rasant und brutal. Das Warenangebot explodierte. Die zuvor von den Händlern gehorteten Waren füllten über Nacht die Schaufenster. Die Preise zogen stark an. Aber die Löhne zogen nicht so schnell nach. Die neue D-Mark war ein knappes Gut. Der Unmut in der Bevölkerung wuchs. „Tausche gesamte britische Militärregierung gegen deutsches Naziregime“, stand noch im Herbst 1948 an Häuserwänden in Köln. Sozialdemokraten und Kommunisten brachten im Wirtschaftsrat – vergeblich – mehrere Misstrauensanträge gegen Erhard ein und riefen im November 1948 zusammen mit den Gewerkschaften auf zum bis heute einzigen Generalstreik. Auf den Transparenten in Frankfurt und anderswo stand damals „Erhard an den Galgen“ und „Marktwirtschaft ist Ausbeutung“. Während Erhard unbeirrt blieb, schwankte man selbst in seiner eigenen Verwaltung – und druckte vorsorglich schon Karten für die Rückkehr zur Bewirtschaftung. Die Krise konnte aber letztlich mithilfe der Vereinigten Staaten überwunden werden, die durch das sogenannte „Jedermann-Programm“ das Angebot begehrter Waren erhöhten. Dabei wurden zum Beispiel Schuhe und Kochgeschirr aus Lagerbeständen freigegeben und dadurch der Preisanstieg gedämpft.

„Austerität“ statt Keynesianismus

Erhard wurde zum erbittert attackierten Hauptgegner der Sozialdemokraten. „Ihre Form des Liberalismus, ganz gleich, ob sie sich als Neo-Liberalismus oder sozialer Liberalismus bezeichnet, ist ein angestaubter Ladenhüter. Auf dem Rücken der kleinen Lohn- und Gehaltsempfänger und Sozialrentner vollzieht sich der Wiederaufbau. Soziale Gerechtigkeit ist nicht einfach ein natürliches Kind der Freiheit. Nie war es so notwendig, dass der Staat fördert, ausgleicht, zurechtrückt und abwehrt. Man kann heute nicht mit dem Lehrbuch von Adam Smith durch die Wirtschaft stolpern. Wir brauchen eine Umrichtung des Kurses auf soziale Verträglichkeit“, hält ihm SPD-Ökonom Erik Nölting, wie Erhard ein Schüler und Doktorand Franz Oppenheimers, in einem ihrer großen Streitgespräche Ende 1948 entgegen. Erhard kontert: „Mir ist von der SPD schon fast alles vorgeworfen worden, abgesehen vom Lustmord. Ich bin kein Knecht der Kapitalisten und folgsames Vollzugsorgan. Meine Haltung ist ganz bestimmt sozial. Mein Hauptgegner ist die Bürokratie, von der wir wissen, wie sie sich gebärdet, Menschen quält und herabwürdigt.“ In dieser Phase wurde Erhard durch Adenauer, den versierten Menschenfänger, für die Union angeworben. Förmliches Mitglied der Christdemokraten ist er aber nie geworden, obwohl ihn Adenauer bisweilen malträtierte, er solle endlich eintreten. Er wollte vom Wähler und der eigenen Popularität getragen werden, nicht gestützt auf eine Partei. Tatsächlich zog Erhard Wählerstimmen an wie Honig die Bienen – und war in der ersten Bundestagswahl 1949 wohl der entscheidende Wahlmagnet der Union, weit vor Adenauer. Diese Wahl und die anschließende Regierungsbildung standen ganz im Zeichen zweier polarisierender Gleichungen: „SPD = Planwirtschaft“ und „CDU/CSU = Soziale Marktwirtschaft“.

„Mein Hauptgegner ist die Bürokratie, von der wir wissen, wie sie sich gebärdet, Menschen quält und herabwürdigt.“

Mit der Bildung der ersten Regierung Adenauer/Erhard war die Verankerung der Marktwirtschaft keineswegs dauerhaft geglückt. Schon Anfang 1950 stieg die Arbeitslosigkeit auf mehr als zwei Millionen. Im Bundestag sprach Nölting davon, dass sich „bei den breitesten Volksmassen das Gefühl der Sorge und Erbitterung festgefressen hat, dass die Regierung die Dinge nicht mehr in der Hand hat“. Er sprach auch von der „Mumie der Marktwirtschaft“ und forderte für die Sozialdemokraten staatliche Lenkungsmaßnahmen und Investitionsprogramme. Doch die Regierung Adenauer/Erhard war nicht für keynesianische Konzepte zu gewinnen. Sie stand für „Austerität“ – das Stichwort fällt auch damals schon – und ließ bis 1963/66 keine nennenswerte Staatsverschuldung zu. Im Februar 1950 verteidigt Adenauer seinen Wirtschaftsminister und dessen Konzeption ausdrücklich: „Jede staatliche Planwirtschaft führt auf Dauer zur Erstarrung, zum Überwuchern der Bürokratie, zur Lähmung der Initiative des Einzelnen. Die gegenwärtige Arbeitslosigkeit ist in keiner Weise durch die Soziale Marktwirtschaft herbeigeführt worden. Nur unsere bei sozialistischer Planwirtschaft niemals erreichte Höhe der Produktion sichert auf Dauer dem gesamten Volk einen menschenwürdigen Lebensstandard und die Bewältigung der großen sozialen Aufgaben“ wie „die Integration der in den letzten Monaten 470.000 heimgekehrten Kriegsgefangenen, 600.000 Flüchtlinge und 400.000 illegalen Übersiedler aus der SBZ (Sowjetischen Besatzungszone)“.

Erhard sekundierte: „Mit der Sozialen Marktwirtschaft haben wir einen Prozess angestoßen, der mehr und mehr in Richtung einer sozialen Verbesserung für unser ganzes Volk wirkt. Kernstück ist die Entfachung des Wettbewerbs. Wir wollen zu einer gerechteren und gleichmäßigeren Verteilung des Volkseinkommens gelangen. Wie? Durch höhere Steuern? Wohin führen sozialistische Konzepte? In völlige Unfreiheit. Es gibt nur eine gerechte Verteilung, und das ist die, die durch die Funktion des Marktes erreicht wird. Der Markt ist der einzig gerechte demokratische Richter, den es in der modernen Wirtschaft gibt.“ Doch der Antrag der SPD, dem Wirtschaftsminister wegen Erfolglosigkeit das Gehalt zu streichen – einen förmlichen Misstrauensantrag gegen einen Minister lässt das Grundgesetz bekanntlich nicht zu –, fand keine Mehrheit.

„Wohin führen sozialistische Konzepte? In völlige Unfreiheit. Es gibt nur eine gerechte Verteilung, und das ist die, die durch die Funktion des Marktes erreicht wird. Der Markt ist der einzig gerechte demokratische Richter, den es in der modernen Wirtschaft gibt.“

Die größte Bewährungsprobe stand Erhard da noch bevor: die Korea-Krise 1950/51. Die Rohstoffkosten stiegen sprunghaft. Selbst die Amerikaner hielten zumindest im Energiebereich die Rückkehr zu einer Bewirtschaftung für geboten. Und Adenauer erklärte im CDU-Bundesvorstand, er sei kein prinzipieller Anhänger der Marktwirtschaft. Diese Wirtschaftsform müsse durch stärkeren Staatseinfluss ersetzt werden, wenn sie nicht erfolgreich sei. Tatsächlich erwog der Kanzler jetzt insgeheim sogar die Ablösung Erhards durch den Berliner Bankier Friedrich Ernst. Lediglich die Kampagne der SPD, die im Juli 1950 im Bundestag formell die Entlassung Erhards durch den Bundeskanzler beantragt, rettete ihn, weil Adenauer den Bedrängten unter diesen Umständen nicht fallenlassen konnte. Der unmittelbar einsetzende Korea-Boom mündete dann rasch in eine fast zwei Jahrzehnte anhaltende Prosperität mit in der Spitze zweistelligen Wachstumsraten der deutschen Wirtschaft. Schon die Zeitgenossen nannten das ein „Wirtschaftswunder“, Erhard selbst sprach lieber vom vorhersehbaren Ergebnis kluger Politik.

Unter dem Eindruck dieses unbestreitbaren Erfolges und zweier heftiger Wahlniederlagen schwenkten die Sozialdemokraten wie in der Außenpolitik auch auf dem Feld der Ökonomie allmählich um. Hatte man nach der Bundestagswahl 1949 in den Dürkheimer 16 Punkten noch ein umfassendes linkes Programm bis hin zur „politischen und wirtschaftlichen Entmachtung des großen Eigentums und der Manager durch Sozialisierung der Grundstoff- und Schlüsselindustrien“ zu Papier gebracht, so fand die von Karl Schiller und Heinrich Deist schon 1952 entwickelte Formel „so viel Wettbewerb wie möglich, so viel Lenkung wie nötig“ nach zähem Ringen Aufnahme in das Godesberger Programm, das im November 1959 verabschiedet wurde. Wie umstritten die Formel lange Zeit war, zeigt ein Ausspruch des Delegierten und späteren Vorsitzenden der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes ÖTV, Heinz Kluncker, der von einem „unerträglichen liberalen Ballast“ sprach. Erhard hat diesem Wandel der SPD nie wirklich getraut. Was er 1960 öffentlich erklärte, entsprach seiner Grundüberzeugung: „Die Marktwirtschaft ist so erfolgreich, dass sich auch die SPD in ihrem Grundsatzprogramm einer allerdings eher unbestimmten Anpassung an die marktwirtschaftlichen Gedankengänge nicht mehr entziehen konnte. Allerdings muss festgestellt werden, dass das SPD-Grundsatzprogramm so viele Reste sozialistischer Lenkungsideologie enthält, dass die Gestaltung der Wirtschaftspolitik nach diesen Prinzipien ein fragwürdiges Experiment wäre!“

Die Rentenreform 1957 als erster Schritt in Richtung Wohlfahrtsstaat

Schwer geärgert hat ihn, dass er durch Umfragen in den 1950er Jahren erfahren musste, dass eine wachsende Mehrheit der Deutschen der festen Überzeugung war, die Soziale Marktwirtschaft sei im Kern eine Erfindung der SPD und Umverteilung das zentrale Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft. Mit Werbekampagnen hat er dagegen anzugehen versucht, unterstützt von wertvollen Multiplikatoren aus seinem Ministerium, der CDU- und FDP-Bundestagsfraktion und nicht zuletzt einflussreichen Journalisten von FAZ, „Welt“ und „Zeit“ – einer Gruppe, die man „Brigade Erhard“ nannte. Noch beunruhigender war, dass Erhard und seine Anhänger erleben mussten, dass selbst in der Union, selbst im Kanzleramt seiner Konzeption nicht nachhaltig vertraut wurde, sondern dass man auch dort zunehmend dem Staatsinterventionismus das Wort redete. Dabei war ihm durchaus klar, dass seine „reine Lehre“ in der Bundesrepublik von Anfang an von einem gerüttelten Maß an Staatsaufgaben, an staatlicher Intervention und Regulierung sowie den Kosten für ein immer weiter verbreitertes soziales Netz begleitet gewesen ist.

Vor der Rentenreform 1957 hat er zusammen mit seinem bayerischen Kollegen, Bundesfinanzminister Fritz Schäffer, den Kanzler vergeblich gewarnt. Die Einführung einer an den Lohnfortschritt gekoppelten „dynamisierten“ Rente in Verbindung mit einem Umlageverfahren, also ohne echte Ersparnis in Form einer Kapitaldeckung, hielten beide nicht zuletzt deshalb für gefährlich, weil sie eine konstant wachsende Bevölkerungszahl voraussetzte. „Kinder kriegen die Leute immer“, erwiderte Adenauer, der den Pillenknick nicht mehr erleben sollte. Für Erhard war mit dieser Reform, die der Union zur absoluten Mehrheit verhalf, die abschüssige Bahn in Richtung Wohlfahrts- und Schuldenstaat beschritten worden: „Die Blindheit und intellektuelle Fahrlässigkeit, mit der wir auf den Versorgungs- und Wohlfahrtsstaat zusteuern, kann nur zu unserem Unheil ausschlagen. Hier liegt ein wahrlich tragischer Irrtum vor, denn man will nicht erkennen, dass wirtschaftlicher Fortschritt und leistungsmäßig fundierter Wohlstand mit einem System umfassender kollektiver Sicherheit auf Dauer gänzlich unvereinbar sind.“

Erhards zentrale Frage war, wie Werte und Wohlstand überhaupt geschaffen werden und wie derjenige belohnt und nicht bestraft werden muss, der sie schafft. Seit dem Ende der 1960er Jahre ist diese Frage zunehmend aus dem Blick geraten. Lautete in den 1970er Jahren seit Kanzler Willy Brandt nicht das Motto: „Wir wollen mehr Versorgungsstaat, mehr öffentlichen Dienst und mehr Staatsverschuldung wagen“? Unter den Pensionslasten für die gewaltige, damals erfolgte Aufblähung des öffentlichen Sektors und der angehäuften gigantischen Staatsverschuldung ächzen und stöhnen jetzt die Finanzminister. Heute schlägt Deutschland ein Drittel seines Bruttosozialprodukts, rund 900 Milliarden Euro, auf dem sozialen Sektor um. Mehr als 80 Milliarden Euro beträgt der jährliche Zuschuss aus dem Bundeshaushalt für die Rentenkassen. Zwangsläufig schwindet dadurch zunehmend der Spielraum für Investitionen.

Erhard hat diese Entwicklung erstaunlich klar vorhergesehen. Ihn trieb bis an sein Lebensende die Sorge um, dass die von ihm mitkonzipierte Wirtschaftsordnung missverstanden und durch fortschreitende Ausweitung der Sozialkosten, Abgaben und Marktregulierungen überdehnt und am Ende zerstört werde. „Ich habe als Bundesminister 80 Prozent meiner Kraft dazu verwenden müssen, gegen ökonomischen Unfug anzukämpfen, leider nicht durchweg mit Erfolg“, hat er kurz vor seinem Tod 1977 gesagt.

Prof. Dr. Daniel Koerfer lehrt als Honorarprofessor an der FU Berlin Neuere Geschichte und Zeitgeschichte. Promoviert wurde er bei Arnulf Baring mit einer Studie über die Innenansicht der Macht in der frühen Bundesrepublik unter dem Titel „Kampf ums Kanzleramt – Erhard und Adenauer“.

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