Im Newsletter von „Tichys Einblick“ vom 25. Mai 2016 fragt Roland Tichy: „Wie wirtschaftsfeindlich ist Deutschland?“ Er antwortet: Wohl kaum ein anderes Land befinde sich so im Würgegriff von NGOs wie Deutschland. Der deutschen Wirtschaft helfe in der gegenwärtig vorherrschenden wirtschaftsfeindlichen Stimmungslage eigentlich nur, die Produktion einzustellen und die Chance der Ortsveränderung zu nutzen. Bissig nennt Tichy eine solche Reaktion der deutschen Mentalität angemessen: Die Deutschen seien „Weltmeister beim Thema Industriedenkmäler“.

Die Wirtschaft im „Würgegriff von NGOs“? – Das Bild mag übertrieben erscheinen. Aber Tichys Warnung, dass sich die Wirtschaft Kritik und Anfeindungen durch Abwanderung entziehen könnte, sodass in Deutschland Industriedenkmäler und Massenarbeitslosigkeit entstehen, muss ernst genommen werden. Doch wie lässt sich ein wirtschaftsfreundlicheres Klima schaffen? Wie lässt sich Kritik, die industriepolitischen Interessen zuwiderläuft, unterbinden oder auf ein erträgliches Maß einschränken?

Die Wirtschaftspolitik hat die Grenzen der Ordnungsaufsicht überschritten

Wenn zur Beantwortung dieser Fragen nicht nur akute Symptome beschrieben, sondern die Ursachen der gegenwärtigen Misere und die Möglichkeiten gesucht werden, sie grundlegend zu verändern, fällt auf, dass sich Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in den letzten Jahren gravierend verändert haben: In weiten Bereichen der Wirtschaft werden wirtschaftliche Leistungen nicht mehr – dem Lehrbuch gemäß – vom marktwirtschaftlichen Wettbewerb getragen, sondern aufgrund von staatlichen Vorgaben und Auflagen erbracht. Die Wirtschaft ist nicht mehr, was sie sein sollte: ein autonomer, selbstbewusster Leistungsträger, der – um nur Beispiele zu nennen – technische Fortschritte zügig aufgreift und zum Vorteil von Verbrauchern preisgünstig und umweltschonend produziert. Und die Wirtschaftspolitik hat die Grenzen der Ordnungsaufsicht weit überschritten. Sie greift fortlaufend in Wirtschaftsprozesse ein: Sie reguliert, dirigiert, subventioniert und fördert die Wirtschaft; sie verordnet und kontrolliert Qualitätsstandards für Produkte; sie scheut sich nicht, Preise und Löhne administrativ festzusetzen; sie gewährt Hilfen, wo Einzelne oder Branchen in Not geraten, und sie stützt Sektoren und Unternehmen, die ihr zukunftsweisend erscheinen.

Was Roland Tichy beklagt, sind die verhängnisvollen Begleiterscheinungen der ausgeuferten Bürokratisierung: einer Bürokratie, in der schon Anfang der 1950er Jahre eine immense Gefahr für die Marktwirtschaft gesehen wurde. Insbesondere Franz Böhm – ein namhafter Ordoliberaler, Jurist und Ökonom, Abgeordneter im Deutschen Bundestag von 1953 bis 1965 – hat als Mitglied einer Sonderkommission, die der Wissenschaftliche Beirat bei Ludwig Erhards Bundesministerium für Wirtschaft 1953 eingerichtet hat, in eindrucksvoller Weise dargelegt, dass sich die Wirtschafts- und Sozialpolitik nicht mit der Einführung einer Sozialen Marktwirtschaft zufriedengeben darf. Die marktwirtschaftliche Ordnungspolitik müsse vielmehr fortlaufend darauf achten, dass die Grundentscheidung für eine Soziale Marktwirtschaft nicht durch bürokratische Entwicklungen und Maßnahmen hintertrieben wird.

Franz Böhm hat es einen unabänderlichen „sozialen Notstand“ genannt, dass in jeder, auch in einer gut bedachten marktwirtschaftlichen Ordnung die Notwendigkeit von staatlichen Interventionen besteht. Er hat verlangt, dass die Spielräume für diese unvermeidliche Staatstätigkeit genau bestimmt, eng begrenzt und fortlaufend überprüft werden, denn die politisch motivierten Eingriffe in die Marktwirtschaft seien in der Lage, die marktwirtschaftliche Ordnung auszuhebeln und zu ruinieren.

Zunehmender staatlicher Interventionismus nach Erhards Rücktritt

Erhard sah das ähnlich wie Böhm. Beide gehörten nicht zu den Liberalen, die in der Marktwirtschaft eine perfekte, jederzeit zur Harmonie neigende und Fehler selbst korrigierende Ordnung sehen. Beide wussten, dass eine Marktwirtschaft bewusst konstituiert werden muss und dass sie für ihr reibungsloses Funktionieren mancherlei Korrekturen und Regulierungen bedarf. Beide wussten aber auch, dass sich jede einmal etablierte staatliche Lenkungsmaßnahme leicht ausbreitet und dass die bürokratischen Regelungen und Kontrollen, die mit jeder Staatstätigkeit verbunden sind, eine Gefahr für die Marktwirtschaft darstellen. Erhard gelang es mit seiner auf Sicherung von Wettbewerb und auf generelle Begrenzung der staatlichen Interventionen ausgerichteten Politik, dem Böhm’schen Postulat zu entsprechen und die notwendigen Staatseingriffe auf das unbedingt erforderliche Mindestmaß zu beschränken.

Nach Erhards Rücktritt als Bundeskanzler Ende November 1966 hat sich in Deutschland jedoch eine Denkweise durchgesetzt, die dem Staat mehr Gestaltungsmöglichkeiten eingeräumt hat. Man glaubte seinerzeit, dass sich bei entschlossener Anwendung der damals modernen keynesianischen Wirtschaftstheorien der Wirtschaftsprozess zielgenauer lenken lässt, als das mit Erhards Politik möglich sei. So wurden im „Gesetz zur Sicherung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“ im Juni 1967 neue Interventions- und Lenkungsmöglichkeiten skizziert, ihre Anwendung durch eine Änderung des Grundgesetzes vorgeschrieben und ihre Finanzierung durch staatliche Kreditaufnahme ermöglicht.

Die eindringliche Mahnung von Franz Böhm, der staatlichen Bürokratie den Zugang zur Marktwirtschaft tunlichst zu versperren, wurde beiseitegeschoben, und die von Ludwig Erhard geübte Zurückhaltung bei Eingriffen in das marktwirtschaftliche Geschehen sowie seine strikte Ablehnung von Wachstumspolitik und konjunktureller Steuerung mittels Staatsverschuldung wurden aufgegeben. Die Situation, die damit eintrat, hat Erhard 1974 mit den Worten umrissen: „Der Liberalismus ist zur Fassade durchaus antiliberaler, ja sozialistischer Kräfte geworden. Was sind das aber für Reformen, die uns Wände voll neuer Gesetze, Novellen und Durchführungsbestimmungen bringen? Liberale Reformen sind es jedenfalls nicht. Es sind Reformen, die in immer ausgeklügelterer Form Bürger in neue Abhängigkeiten von staatlichen Organen bringen, wenn nicht sogar zwingen. Es ist eine törichte Beruhigung, immer wieder zu betonen, dass die Möglichkeit zu privater Initiative heute jedem Bürger gewährleistet sei. Der staatliche Bürokratismus unserer Tage verlangt zwar die Teilnahme der Bevölkerung und kommt dieser Bevölkerung mit Mitspracherechten, mit Demokratisierung, Mitbestimmung und Anhörungen entgegen. Das ist unbestreitbar. Aber zugleich wird im Prozess der zunehmenden Bürokratisierung jene Freiheit eingeschränkt, deren Protagonist ich bin: der Spielraum für die spontane private Betätigung, für die Eigenverantwortung, die Selbstbestimmung und die Selbstvorsorge“ (Ludwig Erhard, Lebensordnung im Geiste der europäischen Freiheit. Rede bei der Verleihung des Freiherr-vom-Stein-Preises am 6. November 1974 im Schloss Auel, Wahlscheid an der Sieg, Seite 25).

Vervollständigung der Marktwirtschaft durch die „Globalsteuerung“?

Wer die hier geschilderte Entwicklung der Wirtschaftspolitik in Deutschland kennt, dem muss nicht erläutert werden, dass die Ursachen für die gegenwärtigen Probleme darin liegen, dass vor nunmehr rund vier Jahrzehnten die erstrangige Aufgabe der marktwirtschaftlichen Politik, die Grundentscheidung für die Soziale Marktwirtschaft zu verteidigen, aufgegeben und die staatliche Wirtschaftssteuerung leichtfertig als legitime Ergänzung der Marktwirtschaft eingeführt wurde.

Damals hieß es beruhigend, Marktwirtschaft und marktwirtschaftliche Politik würden nicht verdrängt, sondern durch die „Globalsteuerung“ nur vervollständigt. In der Wissenschaft – auch von neoliberalen Wissenschaftlern – wurde das hingenommen. Nur Ludwig Erhard empörte sich über die absurde, völlig unmögliche Idee, Marktwirtschaft und staatliche Wirtschaftssteuerung „wie Feuer und Wasser“ friedvoll vereinen zu wollen. Und er hatte recht: Die mit der seinerzeit eingeführten und bis zur Gegenwart betriebenen staatlichen Wirtschaftslenkung hat sich in Deutschland ungehemmt ein Bürokratismus ausgebreitet, der das marktwirtschaftliche Geschehen gelähmt, wenn nicht gar erstickt hat.

Franz Böhm hat 1954 zwei Voraussetzungen genannt, ohne die der notwendige Kampf gegen den Bürokratismus nicht gewonnen werden kann: „Eine solche Politik verspricht natürlich nur dann Erfolg, wenn die Nation von der Richtigkeit der marktwirtschaftlichen Grundsätze überzeugt ist, wenn die öffentliche Meinung grundsätzlich Privilegien und exekutiven Ausnahmemaßnahmen abgeneigt und vor allem gewohnt ist, die Tatsache in Rechnung zu stellen, dass Regierungen und Parteien und Interessenorganisationen immer geneigt und bereit sind, die gesellschaftlichen und politischen Zustände künstlich zu dramatisieren, um ihre Befugnisse und ihren Einfluss zu vermehren. – Werden diese Grundsätze nicht beachtet, dann ist es unausweichlich, dass jede soziale Gruppe – dass alle Gruppen der Bevölkerung – nach gesetzlichen Sicherungen verlangen werden, die ihre wirtschaftliche Lage befestigen und verbessern“ (Franz Böhm, Der Rechtsstaat und der moderne Wohlfahrtsstaat, in: Woldemar Koch (Hrsg.), Grundfragen der Wirtschaftsordnung, Berlin 1954, Seiten 163 f.).

Rückbesinnung auf die Grundsätze der Sozialen Marktwirtschaft

Und das ist die heute sichtbare Misere: Jede wirtschaftliche und jede soziale Interessengruppe richtet ihre Forderungen an die Politik. Der Kampf um die Durchsetzung von Partialinteressen mit politischen Mitteln und die Bereitschaft der Politik, das Gewünschte in opportunistischer, konformistischer oder populistischer Weise zu gewähren und die hierfür notwendigen Verordnungen zu erlassen und Kontrollen durchzuführen, hat den Weg, das Erwünschte selbständig – in Erhards Worten: in Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und durch Selbstvorsorge – zu erreichen, verschüttet und weitgehend unpassierbar gemacht.

Der Ausweg aus dieser Misere kann nur sein, sich wieder auf die zeitlos gültigen Grund­sätze der ursprünglich in Deutschland konstituierten Sozialen Marktwirtschaft zu besinnen. Wie schwierig das sein wird, ist daran zu erkennen, dass gegenwärtig offensichtlich gar keine klaren Vorstellungen von Marktwirtschaft und marktwirtschaftlicher Politik mehr existieren. So wird jetzt beispielsweise davon gesprochen, die starren Richtlinien im Bereich der Ökostrom-Förderung aufzulockern und die Fördermittel aufgrund von Ausschreibungen „marktwirtschaftlich“ zuzuteilen. Das klingt, als solle die Marktwirtschaft als Reparaturbetrieb in aussichtslosen Fällen eingesetzt werden: im vorliegenden Fall, um staatliche Subventionen zu retten, die zu massiven Kostenbelastungen der privaten Haushalte sowie zu Fehlinvestitionen und politischen Auseinandersetzungen geführt haben und die aus öffentlichen Mitteln ohnehin nur noch schwer finanzierbar sind. Aus Erhards Sicht war die Marktwirtschaft jedoch ein System, das die typischen Fehler der staatlichen Wirtschaftsplanung nicht nachträglich korrigieren soll, sondern von Anbeginn an vermeidet.

Dr. Horst Friedrich Wünsche war wissenschaftlicher Mitarbeiter von Ludwig Erhard und von 1991 bis 2007 Geschäftsführer der Ludwig-Erhard-Stiftung. Im Frühjahr 2015 erschien sein Buch: „Ludwig Erhards Soziale Marktwirtschaft: Wissenschaftliche Grundlagen und politische Fehldeutungen“, für das er in diesem Jahr mit dem Wolfgang-Ritter-Preis ausgezeichnet wurde.

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