Wenn die Briten im Sommer über den Brexit entscheiden, dann geschieht dies aus einer Stimmung der Verärgerung und Resignation über die Entwicklung der Europäischen Union heraus. Ein Austritt würde letztlich auch Großbritannien schaden.

Es stimmt: Die EU ist in keiner guten Verfassung. Sie wird ihrem eigenen Anspruch, den sie im Jahr 2000 in der Lissabon-Strategie formuliert hat, nicht gerecht. Sie wollte „ein Vorbild für den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fortschritt in der Welt sein“. 16 Jahre später ist die Bilanz niederschmetternd. Die Gesamtverschuldung der Mitgliedstaaten der EU war noch nie so hoch, das Wachstum lahmt und die Arbeitslosigkeit im Süden Europas ist besorgniserregend. Die Reaktion der Funktionäre auf diese Entwicklung ist noch mehr Zentralismus, noch mehr Planwirtschaft und noch mehr Gängelung des Einzelnen. Offensichtlich wird diese Entwicklung bei der Euro- und Flüchtlingskrise. Der Ursprung beider Krisen ist der gleiche. Die EU ist keine Rechtsgemeinschaft. Europäische Verträge sind Schönwetter-Recht. Bei Wind und Wetter werden sie gebrochen, geschleift und umgedeutet.

Derzeit sucht die Brüsseler Bürokratie den Ausweg aus der Euro-Schuldenkrise in einer größeren Koordinierung der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die mangelnde Koordinierung sei der Grund, aus dem die Volkswirtschaften im Euro-Club immer weiter auseinanderfallen, heißt es bei den Befürwortern. Doch mehr Zentralismus heilt nicht die Prinzipienlosigkeit in Europa. Die Prinzipienlosigkeit ist gleichbedeutend mit dem Primat der Politik. Dieses Primat der Politik ist die Ursache der Krisen und gleichzeitig der Grund für die Verschleppung, Verschleierung und Verniedlichung der Probleme. Und dies wiederum ist der Grund für die Wahlerfolge extrem rechter und linker Parteien in Europa. Es ist die Flucht des Wählers vor der Lösungsinkompetenz der etablierten Parteien.

Thatchers Weg: Steinig und hart, aber erfolgreich

Zentralplanerische Projekte nahmen historisch sehr oft diese Entwicklung. Die Mitgliedstaaten in Osteuropa können ein Lied davon singen, aber auch Großbritannien selbst ging diesen Weg vom Zweiten Weltkrieg bis Ende der 1970er Jahre. Erst die Eiserne Lady Margaret Thatcher beendete dieses sozialistische Experiment. Thatchers Weg war steinig und hart, aber erfolgreich.

Es ist sicherlich so, dass das, was Premierminister Cameron beim Europäischen Rat verhandelt hat, im Ergebnis sehr bescheiden ist. Ja, die Briten können in den nächsten Jahren EU-Ausländer von Sozialleistungen ausschließen. Okay, auch die Aufsicht über ihre Banken und Versicherungen können sie behalten. Und sie bekräftigen nochmals, dass sie NIE, NIE, NIE den Euro einführen werden. Das wusste man aber auch schon vorher. Ja, Cameron ging in die Verhandlungen wie ein adrenalingeschwängerter Boxer und kam mit zwei blauen Augen aus dem nächtlichen Fight. Und als er nach Hause kam, verpasste ihm sein Parteifreund Boris Johnson noch einen Leberhaken obendrauf. Das tat weh.

Vielleicht hätte er den anderen Regierungschefs, wie einst Margaret Thatcher bei anderer Gelegenheit, Hayeks „Verfassung der Freiheit“ auf den Tisch knallen und sagen sollen: „This is what we believe“ und anschließend vorübergehend den Verhandlungstisch verlassen müssen. Vielleicht hätte er zuvor in der EU Allianzen für eine grundlegende Überarbeitung der Verträge schließen müssen. Vielleicht wären die osteuropäischen Staaten dafür Verbündete gewesen, vielleicht sogar auch Deutschland, die Niederlande oder die skandinavischen Staaten. Doch schon ein gewisser Peer Steinbrück sagte einmal: „Hätte, hätte Fahrradkette …“.

Aus Großbritannien stammen bedeutende Vordenker der Freiheit

Klar ist: Entscheidet sich Großbritannien für den Brexit, dann überlässt die Insel weite Teile Europas dem Zentralismus, der Planwirtschaft und dem Paternalismus. Bei aller Distanz zum Festland ist die Tradition Großbritanniens eine andere. Großbritannien hat über Jahrhunderte den Rest Europas immer wieder befruchtet und inspiriert. Großbritannien steht nicht nur für die große Rechtstradition der Magna Charta und der Bill of Rights, die die Herrschaft des Rechts über die der Herrschenden stellte. Aus Großbritannien stammen bedeutende Vordenker der Freiheit wie John Locke, David Hume oder Adam Ferguson. Wahrscheinlich gibt es wenig so eindrucksvolle literarische Monumente über die Freiheit wie John Stuart Mills „On Liberty“. Und in Großbritannien wurde Bahnbrechendes über Marktwirtschaft und Freihandel formuliert. Männer wie Adam Smith und David Ricardo stehen für diese große Tradition.

Als Adam Smith sein Buch „Der Wohlstand der Nationen“ 1776 veröffentlichte und energisch für den Freihandel eintrat, hat keiner, nicht einmal Smith selbst, daran geglaubt, dass die Zeit des Merkantilismus in absehbarer Zeit zu Ende gehen würde. Und dennoch verbreitete sich rund 70 Jahre später, aus England kommend, eine Freihandelsbewegung in Europa und in der Welt, die heute noch Grundlage für unser aller Wohlstand ist. Richard Cobden und John Bright haben den ganzen Kontinent inspiriert.

Die Briten sollten den Rest in Europa nicht im Stich lassen. Stattdessen sollten sie die EU inspirieren, provozieren und so verändern. Was oftmals als Rosinenpickerei verunglimpft wird, ist bei näherer Betrachtung der Widerstand gegen die Subventionsmaschinerie in der EU. Erst durch den Britenrabatt, den Thatcher 1984 mit den Worten „I want my money back“ erkämpfte, gab es überhaupt eine Diskussion über das Ausgabenverhalten der damaligen Europäischen Gemeinschaft, die ihre Haushaltsmittel im Wesentlichen für die Subventionierung der Milchseen und der Fleischberge der Agrarindustrie ausgab. Eine kleine, gut organisierte Gruppe erpresste alle anderen. Lediglich in Großbritannien, wo die Landwirtschaft mit 0,7 Prozent am BIP traditionell eine geringere Rolle spielt, konnten sich deren Interessenvertreter nicht durchsetzen. Das war Thatchers Hebel. Und als 2013 über die mittelfristige Finanzplanung der EU von 2014 bis 2020 verhandelt wurde, war es wieder Großbritannien, das gegen eine massive Erhöhung des EU-Etats kämpfte und sogar für eine Reduzierung eintrat. Die EU-Kommission, das Parlament der EU und die Empfängerstaaten plädierten stattdessen für eine starke Erhöhung der Ausgaben auf bis zu 1.000 Milliarden Euro in diesem Zeitraum. Am Ende wurde der Etat zwar nicht reduziert, jedoch auch nicht erhöht. Deutschland setzte sich dafür ein, dass der EU-Etat eingefroren wird. Ohne die britische Hartnäckigkeit wäre dies sicherlich nicht gelungen.

Die Briten sollten gegen den Brexit stimmen

Der Rückzug der Briten wäre daher ein falsches Signal und würde die Europäische Union noch stärker den Zentralstaatlern und Geldausgebern überlassen. Nicht ohne Grund würden die Bürokraten in Brüssel und die Nehmerstaaten in der EU es nicht schlimm finden, wenn die Briten sich für den Brexit entscheiden würden. Das sollte alle Marktwirtschaftler misstrauisch machen. Denn auch ökonomisch ist Großbritannien ein wichtiges Mitglied. Es hat die zweitgrößte Volkswirtschaft in der EU. Die ökonomische Basis ist zwölf Mal so groß wie die griechische. Die Berichterstattung über Griechenland in den letzten Monaten ist jedoch – zumindest gefühlt – zwölf Mal so groß wie die über Großbritannien.

Ein Austritt würde letztlich auch Großbritannien schaden. Denn ein Rest-Europa, das noch weiter zurückfällt, weil es nicht auf Marktwirtschaft, Recht und Freiheit setzt, schadet mittelbar auch Großbritannien. Es würde innerhalb der EU zu einer Achsenverschiebung in Richtung Südeuropa führen. Länder mit einer noch einigermaßen ausgeprägten marktwirtschaftlichen Ausrichtung wie die baltischen Staaten, die Niederlande und abgeschwächt auch Deutschland würden weiter an den Rand gedrängt. Länder mit einer zentralistischen Tradition wie Frankreich und Netto-Profiteure wie Italien und Spanien würden in Verbindung mit der Bürokratie in Brüssel noch stärker den Kurs bestimmen. Einen Kurs, dem sie mittelbar auch auf ökonomischer wie regulatorischer Ebene ausgeliefert wären – und zwar ohne, dass sie noch echten Einfluss ausüben könnten. Das wäre fatal.

Die Briten sollten für den Verbleib in der EU stimmen. Sie sollten den Rest Europas nicht den Planern und Technokraten überlassen. Um es mit dem Deutsch-Briten Lord Dahrendorf zu sagen: „Europa muss Rechtsstaat und Demokratie verkörpern, pflegen und garantieren: Sonst ist es der Mühe nicht wert.“

Frank Schäffler ist Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung.

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