Jürgen Jeske, bis 2002 Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, erhielt 1994 den Ludwig-Erhard-Preis für Wirtschaftspublizistik. Seit 1997 ist er Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung. Nachfolgend veröffentlichen wir einen Beitrag, in dem er Angela Merkels Politik eher Pragmatismus als ordnungspolitische Prinzipientreue attestiert.

Auf dem CDU-Parteitag in Karlsruhe hat sich die Bundeskanzlerin in die Reihe großer CDU-Politiker gestellt: Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Helmut Kohl. Bei Erhard verwies sie aber nicht auf seine eigentliche große Tat, die neoliberale Wirtschaftsreform von 1948, die zusammen mit der Währungsreform das Fundament der Sozialen Marktwirtschaft bildete. Angela Merkel sprach vielmehr vom Wirtschaftswunder, der wahlwirksamen Folge der Reform. Erhard selbst hat den Begriff Wunder nie geschätzt. Er sah den Wiederaufbauboom als „die Konsequenz der ehrlichen Anstrengung eines ganzen Volkes, das nach freiheitlichen Prinzipien die Möglichkeit eingeräumt erhalten hat, menschliche Initiative, menschliche Freiheit, menschliche Energien wieder anwenden zu dürfen“. Natürlich wird die Kanzlerin auch an Erhards unerschütterlichen Optimismus gedacht haben, gewissermaßen als frühen Ausdruck ihrer Wir-schaffen-das-Rhetorik. Erhard war damals vom Erfolg seiner Reform überzeugt. Die Kanzlerin glaubt, in 25 Jahren ihre Vision eines gestärkten, sicheren und offenen Deutschlands verwirklicht zu sehen.

Zwischen Erhards Erfolg und Merkels Vision gibt es allerdings einen Unterschied. Seine Maßnahmen beruhten anders als Merkels Politik auf festen Anschauungen vom Funktionieren der Wirtschaft und einer freiheitlichen Ordnung. Erhard strebte mit seiner Sozialen Marktwirtschaft einen dritten Weg zwischen ungebändigtem Kapitalismus und totalitärem Kollektivismus an. Sein Biograph Alfred Mierzejewski schreibt: „Im Zentrum seines Weltbildes stand der Einzelne. Individuen würden ein gutes, einträgliches Leben in Wohlstand führen, wenn sie an den freien Märkten teilhätten. Weil jedoch einige immer ihre Freiheit missbrauchten, war ein starker Staat vonnöten, der ihre Verhalten überwachte …“ Die Lösung sozialer Probleme sah Erhard im Wachstum, aber nicht in Umverteilung und Verteilungsgerechtigkeit. Er war ein liberaler Wirtschaftsminister ohne „christlich-demokratischen Stallgeruch“ (Hans-Peter Schwarz). Doch er befand sich damals im Einklang mit CDU-Kanzler Adenauer, der ebenfalls gegen Kollektivismus und für Freiheit zu Felde zog und im Gegensatz zu seinem linken Parteiflügel erst den Wirtschaftsaufschwung und dann soziale Wohltaten wollte.

Die Bundeskanzlerin hat heute keinen prinzipienfesten Ordnungspolitiker an ihrer Seite. Sie handelt als ausgeprägte Machtpolitikerin überwiegend nach pragmatischen und parteitaktischen Überlegungen. Erhards Formulierung, er mache seine Politik nicht, um Wahlen zu gewinnen, sondern für das ganze deutsche Volk, ist Merkels Sache nicht. Sie will, wie Helmut Kohl, Wahlen gewinnen und keinen Erhard-Preis. Sie folgt daher dem Zeitgeist; denn bei den Wählern wird seit Jahren pragmatisches Handeln mehr geschätzt als Prinzipientreue. Und wer regieren will, braucht natürlich Mehrheiten, heute nicht nur in Deutschland, sondern auch innerhalb der Europäischen Union. Schon Erhard äußerte 1962 große Zweifel, ob seine konsequente Wirtschaftsreform in einem parlamentarisch-demokratischen System mit der Notwendigkeit von Kompromissen überhaupt möglich gewesen wäre. 1948, unter dem damaligen Besatzungsregime, besaß er nämlich ganz andere Kompetenzen.

Seit vielen Jahren schon bleibt daher ökonomische Vernunft und marktwirtschaftliches Denken meist auf der Strecke, unter wechselnden Regierungen mal mehr, mal weniger. Merkels Satz, Demokratie müsse marktgerecht sein, wurde empört zurückgewiesen. Von den marktliberalen Thesen des Leipziger Parteitags von 2004 hat sich aber die Union längst verabschiedet. Mit Erfolg hat Merkel die SPD links überholt. Inzwischen sind in der großen Koalition auf Betreiben der SPD sogar wesentliche Teile der letzten ökonomisch richtigen Reform, der „Agenda 2010“ von SPD-Kanzler Gerhard Schröder zurückgedreht worden. Nicht zuletzt dieser Reform ist jedoch die zurzeit ausgezeichnete Wirtschaftslage Deutschlands mit zu verdanken.

Angesichts der guten Kassenlage wird jedoch der ohnehin schon überzogene deutsche Sozialstaat mit neuen Ansprüchen munter ausgeweitet, obwohl viele Bürger längst daran zweifeln, dass der Staat alle diese Versprechen einhalten kann. Wer denkt da noch an frühe Warnungen wie die des CDU-Vordenkers und Erhard-Bewunderers Kurt Biedenkopf in seinem 2011 erschienenen Buch „Wir haben die Wahl – Freiheit oder Staat“. Biedenkopf fordert darin, sich von staatlicher Vormundschaft zu befreien, den Sozialstaat wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen und zu Subsidiarität und personaler Solidarität zurückzukehren. Doch das Gegenteil geschieht.

Auch die Staatseingriffe nehmen zu, am eklatantesten mit der Energiewende, die zwar Merkels Ruf als „Klimakanzlerin“ unterstreicht, aber wenig ökonomische Ratio erkennen lässt. In der Europapolitik ist die wirtschaftliche Vernunft und das, was Erhard ordnungspolitisch dazu vorschwebte, ebenfalls unter die Räder gekommen trotz aller vernünftigen Schritte, die zur Bewältigung der Staatsschuldenkrise unternommen wurden. Wer heute Zweifel an der Europapolitik äußert, wird, wie früher Erhard, als schlechter Europäer abgestempelt. Die Stabilitätskriterien von Maastricht sind längst Makulatur, ohne dass daraus entscheidende Schlussfolgerungen gezogen werden. Die notwendigen Reformanstrengungen lassen in den meisten Mitgliedsländern deutlich nach. Von der viel beschworenen europäischen Solidarität, auf die Merkel baut, kann kaum mehr die Rede sein. Das wird besonders deutlich angesichts der neuen Völkerwanderung. Der Schengen-Raum als ein im europäischen Geist einst konzipiertes Gebiet von Freizügigkeit erweist sich als Schönwetterkonzept, das neu überdacht werden müsste.

Was bedeutet vor diesem Hintergrund die Vision, die Merkel in Karlsruhe für Deutschland 2040 entworfen hat? Kann Deutschland bei fortschreitender Globalisierung und europäischer Harmonisierung noch ein bürgerlich geprägtes Land von Maß und Mitte bleiben? Was heißt starke nationale Identität angesichts von Massenzuwanderung aus anderen Kulturkreisen und der Probleme in der europäischen Zusammenarbeit? Was für ein Menschenbild hat Merkel? Ist es noch der selbstverantwortlich handelnde Einzelne, der Erhard vorschwebte, oder der vom Sozialstaat betreute abhängige Untertan?

Erhard besaß durch seine bürgerliche Herkunft aus einer Kaufmannsfamilie, durch seine wissenschaftliche Arbeit und seine Erfahrungen ein freiheitliches Welt- und Menschenbild. Er glaubte, dass sich Politik ohne wissenschaftliche Fundierung in ziellosem Pragmatismus erschöpfen würde. Er wusste natürlich um den Unterschied zwischen Ideal und Wirklichkeit. Er hielt auch öffentliche Akzeptanz für wichtig, wollte sich aber nicht wie die heutige Politik von Meinungsumfragen leiten lassen.

Auf diese Weise wurde seine Wirtschaftspolitik zum Erfolg und schuf die Grundlage für den Wiederaufstieg Deutschlands nach dem Krieg. Sie wurde zum Gründungsmythos der Bundesrepublik und wird in vielen Ländern nach wie vor als Vorbild gesehen. Es ist tragisch, dass es Erhard später nicht mehr gelang, die Soziale Marktwirtschaft dem weltwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel anzupassen. Erhard unterschätzte den Hang der Deutschen zum Kollektivismus. Er war erfolgreich, solange die Wirtschaft gut lief. Als Bundeskanzler scheiterte er schließlich an einer schwächelnden Konjunktur, an seinem mangelnden Machtwillen und am fehlenden Rückhalt seiner Partei.

An fehlendem Machtwillen wird Angela Merkel nicht scheitern. Auch an ihrem vom Zufall des Augenblicks geprägten pragmatischen Handeln wird sich keine Kritik entzünden, solange sie international als „unverzichtbar“ gilt und innenpolitisch alternativlos erscheint. Auf europäischer Ebene ist in Deutschland immer noch am ehesten etwas ökonomische Vernunft zu spüren. Was aber ist, wenn die Konjunktur nicht mehr so gut läuft und die Arbeitslosigkeit wieder steigt? Was ist, wenn die Spannungen in der EU weiter zunehmen? Wie steht es mit dem Rückhalt in der eigenen Partei und in der Koalition im Wahljahr? Merkels Vision weit in die Zukunft könnte dann schnell als trügerisches Wunschbild erscheinen.

Dieser Artikel ist erstmals am 14. Januar 2016 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Nr. 11, Seite 17) erschienen. © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.

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