Am 16. Dezember 2013 haben Union und SPD den Koalitionsvertrag unterzeichnet. Nach einem Jahr Großer Koalition ist die Liste der Verbote und Gebote lang geworden: Mindestlohn, Mietpreisbremse, Frauenquote und Tarifeinheit schränken die individuelle Freiheit immer mehr ein. Mit der Regulierung wächst auch die Bürokratie: Je mehr der Gesetzgeber vorschreibt, umso mehr muss dokumentiert und kontrolliert werden. Die Ludwig-Erhard-Stiftung möchte deshalb an Ludwig Erhards Worte erinnern.

Es ist viel darüber gestritten worden, ob die staatsmännische Leistung des Freiherrn vom Stein auf einer liberalen Gesinnung beruhte oder nur auf dem pragmatischen Erkennen einer zu seiner Zeit in Preußen durchaus herrschenden Reformbereitschaft. Dieser Streit ist heute abgeklungen. Wir wissen, dass der entscheidende Einfluss auf die Auffassungen Steins von Edmund Burke, dessen „Gedanken über die Revolution in Frankreich“ Stein mehrfach gelesen hat, und von Adam Smith ausging. Wenn wir von den Missdeutungen, die dem Begriff des Liberalismus gerade heute widerfahren, absehen, zeigt sich uns der von Stein durchgeführte Reformkomplex in Preußen als echt liberaler Ansatz.

Wie viele Jahre waren es aber, bis die Reformanfänge des Freiherrn vom Stein gehemmt und unter einem liberalen Mantel in einer wahrhaft restaurativen Epoche unerwünschten Ergebnissen zugeführt wurden? Vom Stein war kaum ein volles Jahr Minister in Preußen. Bereits mit seinem Nachfolger, von Hardenberg, begann das Missverständnis der liberalen Bewegung. Dem Geist der Aufklärung folgte der deutsche Idealismus; Fichte hielt seine „Reden an die deutsche Nation“, und Kant wurde zum Idealisten uminterpretiert. Der persönlichen Befreiung der Bauern, der Beseitigung polizeistaatlicher Bevormundung der Wirtschaft, der Aufhebung der Erbuntertänigkeit und der Freigabe des Verkehrs mit Grundeigentum, der Städteordnung und dem Bemühen, die tätige Mitarbeit aller Bevölkerungsschichten am politischen Geschehen zu sichern; – jener Epoche rationaler und grundlegender Reformen sowie bewussten Ordnungsdenkens folgte wiederum die gewiss nicht glückliche Zeit staatlichen Interventionismus und obrigkeitlicher Regulierungen. Fichte, Hegel und Marx haben in dieser Epoche ihre geistigen Grundlagen, ebenso aber auch die bald brennenden sozialen Probleme des 19. und unseres Jahrhunderts.

Was sind das aber für Reformen, die uns Wände voll neuer Gesetze, Novellen und Durchführungsbestimmungen bringen? Liberale Reformen sind es jedenfalls nicht. Es sind Reformen, die in immer ausgeklügelterer Form Bürger in neue Abhängigkeiten von staatlichen Organen bringen, wenn nicht sogar zwingen.

Wenn ich heute diese Entwicklung als geschichtliche Vision beschwöre – wohlwissend, dass in einer solch kurzen Ansprache mehr Fragen und Probleme aufgeworfen als beantwortet und gelöst werden –, so ist deren Zweck doch offensichtlich. Auch heute wieder wird viel von Reformen geredet. Der Liberalismus ist zur Fassade durchaus antiliberaler, ja sozialistischer Kräfte geworden. Was sind das aber für Reformen, die uns Wände voll neuer Gesetze, Novellen und Durchführungsbestimmungen bringen? Liberale Reformen sind es jedenfalls nicht. Es sind Reformen, die in immer ausgeklügelterer Form Bürger in neue Abhängigkeiten von staatlichen Organen bringen, wenn nicht sogar zwingen.

Es ist eine törichte Beruhigung, immer wieder zu betonen, dass die Möglichkeit zu privater Initiative heute jedem Bürger gewährleistet sei. Der staatliche Bürokratismus unserer Tage verlangt zwar die Teilnahme der Bevölkerung und kommt dieser Bevölkerung mit Mitspracherechten, mit Demokratisierung, Mitbestimmung und Anhörungen entgegen. Das ist unbestreitbar. Aber zugleich wird im Prozess der zunehmenden Bürokratisierung jene Freiheit eingeschränkt, deren Protagonist ich bin: der Spielraum für die spontane private Betätigung, für die Eigenverantwortung, die Selbstbestimmung und die Selbstvorsorge. Das ist die andere Seite. Die Gefahr, die ich in diesem gegenwärtigen Prozess sehe, kann nicht besser dargestellt werden als durch den Rückgriff auf die geschichtliche Situation in Preußen zur Zeit des Freiherrn vom Stein und seiner Nachfolger.

Die liberale Epoche nach dem Kriege in Deutschland scheint mir heute abgelöst. Dem wahren Liberalismus war es nur vergönnt, sich hin und wieder in der deutschen Geschichte zu manifestieren. Vielleicht aber müssen wir uns bescheiden, liberale Ideen verwirklichen zu wollen, um den Wert dieses Geistes lebendig zu erhalten und damit die Verirrungen der folgenden Epoche in Grenzen zu halten und sie vor allem dem Menschen erträglich zu machen. In diesem Sinne ist das Bemühen des Freiherrn Karl vom und zum Stein so wenig allein Stoff der historischen Wissenschaft, wie die Soziale Marktwirtschaft als Wunder einer vergangenen Zeit abgelegt werden kann. Die Ansätze im Bemühen um eine Lebensordnung im Geiste der europäischen Freiheit waren erfolgreich und richtungsweisend genug, um einer kommenden Generation Vorbild zu sein.

Auszug aus einer Rede, die Ludwig Erhard anlässlich der Verleihung des Freiherr-vom-Stein-Preises am 6. November 1974 im Schloss Auel, Wahlscheid/Siegkreis gehalten hat.

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