Nein! – meint Professor Richard Reichel, Geschäftsführer des Forschungsinstituts für Genossenschaftswesen an der Universität Erlangen-Nürnberg. Die Argumente der EZB für die extrem expansive Geldpolitik seien nicht stichhaltig.

Seit Ausbruch der europäischen Staatsschuldenkrise betreibt die Europäische Zentralbank (EZB) eine extrem expansive Geldpolitik, die inzwischen zu Nullzinsen bei Spareinlagen und negativen Nominalzinsen bei Einlagen der Geschäftsbanken bei der EZB geführt hat. Als Begründung werden regelmäßig drei Aspekte genannt: Erstens möchte man frühzeitig gegen die Gefahr einer Deflation vorgehen, zweitens möchte man das Wirtschaftswachstum im gemeinsamen Währungsgebiet fördern, und drittens möchte man das Finanzsystem stabilisieren. Mit Blick auf die Wirkungen niedriger Zinsen auf das Sparen steht die EZB auf dem Standpunkt, es sei nicht ihre Aufgabe, den Sparern einen auskömmlichen Zins zu garantieren. Man sei lediglich dem Ziel der Preisniveaustabilität verpflichtet. Inwieweit sind diese Argumente stichhaltig?

Deflationsgefahren?

Beginnen wir mit dem angeblichen Problem einer möglicherweise drohenden Deflation. Hier wird immer wieder auf gefährliche Teufelskreise aus fallenden Preisen, sinkender Produktion, steigender Arbeitslosigkeit, rückläufigen Einkommen, fallender Nachfrage, weiter fallenden Preisen und einer realen Schuldenaufwertung hingewiesen. Das Entstehen solche Teufelskreise müsse mit allen Mitteln verhindert werden. Allerdings gibt es schon die ökonomische Theorie nicht her, Deflation ausschließlich negativ zu beurteilen, denn es gibt auch positive, stabilisierende Effekte wie den Realkasseneffekt.

Deshalb ist es hilfreich, die Ergebnisse empirischer Studien zu betrachten. Diese zeigen recht eindeutig zwei Dinge: Erstens lässt sich ein genereller wachstumsschädlicher Effekt von Deflation nicht beobachten. Und wenn zweitens dennoch auf negative Wirkungen verwiesen wird, dann stützen sich diese Hinweise ausschließlich auf die Evidenz der frühen 1930er Jahre. Hier war nun allerdings eine heftige Deflation über mehrere Jahre zu beobachten, und die Rolle der Geldpolitik war zumindest kontrovers. Heute geht es um „ein Kratzen an der Inflations-Nulllinie“, hervorgerufen durch die rückläufigen Energiepreise. Nur in diesem Sektor gab es Deflation, sonst nirgends. Diese Deflation sollte eigentlich höchst willkommen sein, handelt es sich im Kern doch um einen Transfer von Realeinkommen von den Energieerzeuger- zu den Energieverbraucherländern, also einen Terms-of-Trade-Gewinn für die Länder der Eurozone.

Die positiven, wenngleich temporären Wachstumswirkungen bräuchten eigentlich nicht weiter thematisiert zu werden, würde die EZB den Energiepreisrückgang nicht sogar kritisch sehen. Sie befürchtet das Entstehen von Deflationserwartungen und reagiert mit einer Ausweitung der Geldmenge. Gleichzeitig wird der positive Wachstumseffekt negiert und behauptet, es sei die expansive Geldpolitik gewesen, die in Euroland das Wachstum gefördert hätte. Diese Sichtweise ist nicht einmal ansatzweise glaubwürdig. Für die segensreichen Wirkungen der Geldpolitik der letzten Jahre gibt es keinerlei empirische Evidenz (wie etwa steigende Investitionen), für die positiven Folgen fallender Energiepreise – und umgekehrt die negativen Folgen steigender Energiepreise – hingegen jede Menge historisch-empirischer Belege. Man kann es auch anders formulieren: Hätte die EZB mit ihrer kritischen Sicht des Energiepreisrückgangs recht, sollte sie öffentlich für eine neue Ölkrise eintreten, denn diese würde die Gefahr von Deflation und Deflationserwartungen bestimmt beseitigen. Zusammenfassend kann man also die These „Deflationsgefahren als Begründung für die Geldpolitik“ nicht als glaubwürdig bezeichnen.

Wachstumsförderung?

Kommen wir zur zweiten These, nach der die expansive Geldpolitik nötig ist, um das Wachstum zu fördern. Das ist elementarer Bestandteil der Lehre von John Maynard Keynes. Leider stimmt an der unterstellten Wirkungskette nur der Anfang. Zweifellos hat es die EZB vermocht, die Zinsen auf und unter null zu senken und zwar am kurzen und am langen Ende. Allerdings sind die Investitionen nicht angesprungen, seit drei Jahren verharrt die Investitionsquote im Euroraum zwischen 19 und 20 Prozent. Verwunderlich ist das indes nicht, ist doch aus der empirischen Literatur bekannt, dass die Zinselastizität der gesamtwirtschaftlichen Investitionen äußerst gering und vielfach statistisch gar nicht signifikant von null verschieden ist. So gesehen bestätigen die gegenwärtigen Erfahrungen nur den Literaturbefund. Wenn die Investitionen aber nicht steigen, ist auch nicht mehr Wirtschaftswachstum zu erwarten.

Stellt man diese Befunde in Rechnung, so erweist sich auch das zweite keynesianische Argument, die Liquiditätsfalle, als irrelevant. Hier wird eine positive Investitionswirkung sinkender Zinsen unterstellt, das Problem besteht in „nicht weiter absenkbaren Zinsen“ bzw. der Erwartung eines Zinsanstiegs. Ein nachvollziehbares Argument wäre es da schon, wenn die EZB die Zinsen in den negativen Bereich drücken würde. Nur nützen würde es nichts! Auch negative Zinsen würden aller Erfahrung nach die Investitionen nicht anregen. Wie man leicht sieht, steht das Argument der Wachstumsförderung durch expansive Geldpolitik auf tönernen Füßen oder besser gesagt: auf gar keinen Füßen. Als ernsthaftes Argument für die Richtigkeit der gegenwärtigen Geldpolitik der EZB kann es nicht dienen.

Finanzstabilität?

Wie steht es nun um das dritte Argument, der Schaffung von Finanzstabilität? Die EZB gibt vor, durch unbegrenzten Zugang zu kostenloser Liquidität das Finanzsystem zu stabilisieren. Am Anfang steht hier die Erzeugung eines schlechten Gewissens im Bankensektor, frei nach dem Vorwurf: „Ihr habt die Finanzkrise vor acht Jahren verursacht, und wir sind immer noch dabei, euch zu retten. Jetzt jammert nicht, wenn eure Zinsspanne sinkt.“ Dieses schlechte Gewissen soll den Geschäftsbankensektor ruhigstellen, und wie man sieht, funktioniert das auch. Kritik wird nur vereinzelt laut. Indes, das Argument von der Rettung oder Stabilisierung des Finanzsektors durch Nullzinsen ist zwar nicht ganz falsch, aber mindestens stark windschief. Natürlich kann man bankrotte Geschäftsbanken durch immer neue Zufuhr von Liquidität auch längere Zeit vor dem Untergang bewahren. Diese Banken sind wahrscheinlich auch jene gewesen, die an der Entstehung der Finanzkrise beteiligt waren. Übermäßige Risikobereitschaft wird nun durch Rettung belohnt.

Diejenigen Banken, die in den vergangenen Jahren das Bankensystem stabilisiert haben und die an der Entstehung der Finanzkrise gar nicht beteiligt waren, werden dafür aber massiv zur Ader gelassen. Die Rede ist von den kleinen und mittleren Regionalbanken, den Sparkassen und Kreditgenossenschaften, der Stütze der Realwirtschaft in vielen Ländern Europas. Diese Banken verdienen 70 bis 80 Prozent ihrer Erträge im Zinsgeschäft, und dieses Zinsgeschäft leidet massiv unter der Nullzinspolitik. Je niedriger das Zinsniveau, desto niedriger die Zinsspanne. Am Beispiel der deutschen Genossenschaftsbanken können die Auswirkungen verdeutlicht werden. Deren Zinsüberschuss belief sich im Jahr 2014 auf 2,21 Prozent der Bilanzsumme; 2015 sank er auf 2,13 Prozent. Berücksichtigt man die weiteren Ertragsquellen und saldiert die Betriebsaufwendungen, so ergab sich 2014 ein Jahresüberschuss vor Steuern von etwa 0,9 Prozent; 2015 von ca. 0,8 Prozent. Eigene Simulationsrechnungen unter der Annahme einer weitere vier Jahre andauernden Nullzinsphase ergeben bei den Kreditgenossenschaften einen Rückgang der Zinsspanne auf 1,6 Prozent. Dieser Rückgang wird in etwa auch durch die Bundesbank prognostiziert. Ceteris paribus impliziert dies einen Rückgang des Jahresüberschusses auf ca. 0,3 Prozent der Bilanzsumme. Es werden also im Durchschnitt nur noch sehr geringe Gewinne erzielt werden. Bei den Sparkassen dürfte sich die Lage ähnlich darstellen.

Damit bringt die EZB gerade die Institute in Schwierigkeiten, die einerseits an der Entstehung weder der Finanzkrise noch der Staatsschuldenkrise beteiligt waren und die andererseits seither zu einer Stabilisierung des Finanzsystems und der Realwirtschaft durch steigende Kreditvergabe beigetragen haben. Absurder kann eine Situation nicht sein: Der Brandstifter erhält einen Orden, und die Feuerwehrleute steckt man ins Gefängnis. Es sind aber nicht nur die Regionalbanken, die massiv geschädigt werden, es sind auch die Versicherungen und ihre Kunden, meist Nettosparer. Überall dort, wo Kapitalanlage im Spiel ist, drohen massive Probleme (so auch beispielsweise bei Lebensversicherungen und privaten Krankenversicherungen). Eine Destabilisierung des Versicherungssektors kann jedenfalls auch nicht im Interesse einer Zentralbank sein. Alle regulatorischen Maßnahmen, die durchgeführt oder geplant sind und die auf höhere Krisenresistenz des Finanzsektors abzielen, werden durch das Nullzinsumfeld konterkariert bzw. ad absurdum geführt. Damit dürfte auch bei diesem Argument deutlich geworden sein, dass die behaupteten Gründe für die Nullzinspolitik unzutreffend sind.

Nutzlose Ratschläge an die Sparer

Wie sieht es nun mit der Position der EZB gegenüber den Sparern aus? Es ist eine triviale Feststellung, dass es nicht die Aufgabe einer Zentralbank ist, den Sparern einen „auskömmlichen“ risikofreien Zins zu sichern. Es ist aber auch nicht die Aufgabe einer Zentralbank, den Zins in einen absurden Bereich hinein zu manövrieren und realwirtschaftlich existierende Zinssätze massiv zu verfälschen. Modelltheoretisch lassen sich zwar unter bestimmten Umständen Negativzinsen begründen; nur liegen diese Bedingungen in der Realität nicht vor. Vor allem empirisch nicht haltbar ist die vielfach vertretene Behauptung, alternde Gesellschaften produzierten aufgrund eines zunehmenden „Sparüberschusses“ niedrige oder sogar negative Realzinsen. Japan ist ein schlagendes Gegenbeispiel. Das Land mag an allem Möglichen leiden, aber gewiss nicht an „Übersparen“; in den vergangenen Jahrzehnten ist die Konsumquote im Trend angestiegen, die Sparquote ist gefallen. Fazit: Negative Realzinsen oder sogar negative Nominalzinsen lassen sich realwirtschaftlich gegenwärtig nicht begründen. Die gegenwärtigen Sätze sind sicher keine Marktpreise, sondern monopolistisch verzerrte Preise. Dass nicht realwirtschaftliche Faktoren für die gegenwärtige Zinslandschaft verantwortlich sind, zeigt auch die einfache Tatsache, dass sich diese nicht innerhalb einiger weniger Jahre dramatisch ändern. Anders ausgedrückt: Würde die EZB gegenwärtig ihre Leitzinsen in einem Korridor von zwei bis drei Prozent festlegen, würden sich die Geld- und Kapitalmarktzinsen ebenfalls wieder deutlich erhöhen. Man probiere es aus!

Schwer nachvollziehbar bis weitgehend unsinnig sind auch die Ratschläge von Vertretern der EZB und der Bankenaufsicht. Wenn beispielsweise EZB-Präsident Mario Draghi angesichts eines nicht existierenden risikofreien Zinses Sparern dazu rät, doch gefälligst mehr ins Risiko zu gehen, so hat er offenkundig die Lehren aus der Finanzkrise nicht vollständig verarbeitet. Aber immerhin steckt noch ein entfernt nachvollziehbarer ökonomischer Kern hinter dem Vorschlag. Vollends lächerlich aber ist der Hinweis vom Präsidenten der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht, Felix Hufeld, die Banken (und damit auch die Sparer) mögen doch im Sinne der islamischen Wirtschaftstheorie endlich akzeptieren, dass es keinen Zins mehr gebe. Dann müsse man auch nicht mehr jammern. Mission im Dienst der Rechtfertigung der Geldpolitik! Malte Fischer hat diesen Vorschlag in der Wirtschaftswoche vom 20. Mai 2016 (Seite 32) in einem empfehlenswerten Artikel kritisiert. Solch eine Aussage aus dem Munde des obersten Aufsichtsbeamten hören zu müssen, lässt Schlimmes befürchten. Da ist es nur eine schwache Entschuldigung, dass Hufeld offenbar über keine akademische volkswirtschaftliche Ausbildung verfügt.

Kommen wir am Ende zur Antwort auf die Frage nach der Richtigkeit der europäischen Geldpolitik. Nichts daran ist im Sinne von „zweckmäßig“ richtig, jedenfalls dann nicht, wenn man die offiziellen Begründungen kritisch prüft. In welchem Sinn kann die Geldpolitik aber möglicherweise „richtig“ sein?

Währungsreform ohne neue Währung!

Währungsreformen, das heißt die Einführung einer neuen Währung, gibt es typischerweise nach einer Hyperinflation (so im Deutschen Reich 1923) oder nach einer zurückgestauten Inflation (wie in Westdeutschland 1948). In beiden Fällen werden Forderungen und Verbindlichkeiten in alter Währung meist drastisch abgewertet. Gemeinsame Ursache sind überschuldete Staatshaushalte und langfristig untragbare Schuldenquoten. In vielen Ländern Europas haben wir das gleiche Problem, auch wenn die Dimensionen natürlich noch nicht die damaligen deutschen erreicht haben. Bedenklich ist die Lage vor allem in zwei Ländern: Griechenland und Italien. Griechenland liegt bereits seit fünf Jahren auf der Intensivstation und erhält eine – durchaus umstrittene –Spezialbehandlung, aber der eigentliche Problemfall ist Italien. Gefährlich ist die Kombination aus sehr hoher Schuldenquote, maroden Bilanzen des Geschäftsbankensektors und wirtschaftlicher Stagnation. Hier führen Liquiditätsflut und Nullzinsen natürlich zu einer Entlastung, und das ist wohl der Hauptzweck des ganzen Unternehmens. Eine versteckte Währungsreform ohne neue Währung würde dann elegant realisierbar, wenn Bargeld abgeschafft werden würde. Negative Einlagezinsen und keine Möglichkeit des Ausweichens auf Bargeld würden die Sparer dann auch nominal enteignen, und wir hätten im Ergebnis eine permanente Zusatzsteuer. Das scheint auch der tiefere Sinn einer beabsichtigten Abschaffung des Bargeldes zu sein.

Im Endeffekt würde ein Umverteilungsmechanismus in Gang gesetzt, der einen Transfer von den Gläubiger- zu den Schuldnerländern (vereinfacht: von Nordländern zu Südländern) bewirkt. Wenn die EZB einen solchen im Blick haben sollte, wäre die Geldpolitik der EZB in der Tat „richtig“, zumindest im Sinne von „zielführend“. Aber so war die eingangs gestellte Frage wahrscheinlich nicht gemeint. Lässt man die Ironie weg, so kann die gegenwärtige Politik nur als Angriffskrieg gegen die europäischen Sparer bezeichnet werden. Das ist fürchterlich und sollte energische Abwehrmaßnahmen auf den Plan rufen.

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