Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat anlässlich eines Besuchs in Ludwig Erhards Geburtsstadt Fürth eine Rede gehalten. Seine Ausführungen lassen auf krasse Fehldeutungen von Erhards Konzept der Sozialen Marktwirtschaft schließen.

Tote können sich nicht wehren gegen missbräuchliche Vereinnahmung und Fehldeutung. Wenn Ludwig Erhard es könnte, würde er sicher häufiger aus seinem Grab steigen und Politikern kräftig auf den Fuß treten, die den Sinn der Sozialen Marktwirtschaft verdrehen und das Etikett missbrauchen. Sogar die Alt-Kommunistin Sahra Wagenknecht schlachtet Erhards Bücher aus und beruft sich auf ihn. Viele andere – von der CDU bis zu den Grünen – führen ihn im Munde. Doch hat ihre Politik wenig bis gar nichts mit Erhards strikt marktwirtschaftlichem Kurs zu tun.

In die Reihe der Pseudo-Erhards stellt sich nun auch Sigmar Gabriel. Bei einem Besuch in Erhards Geburtsstadt Fürth am 13. Februar 2015 versuchte er, sich in die Nachfolge zu stellen. Aber was hat der SPD-Chef und aktuelle Bundeswirtschaftsminister mit dem „Vater des Wirtschaftswunders“ gemeinsam – außer der fülligen Figur und dem Ministeramt? Was sind die drei großen „Reformen“, die Gabriel in der großen Koalition durchgedrückt hat? Staatlich festgelegter Mindestlohn, Rente mit 63 und die fortgesetzten, nur marginal korrigierten gigantischen Ökostrom-Subventionen. Das alles hätte dem marktwirtschaftlichen Ökonomen Erhard wohl kaum gefallen.

Gabriel ohne inneren Bezug zu Erhard

Dennoch versucht Gabriel, Erhards „Wohlstand für alle“ für sich umzudeuten. Der Auftritt in Fürth, dem Geburts- und Heimatort Erhards, diente diesem Zweck. Der aufmerksame Beobachter konnte aber sehen, dass Gabriel sich eher lustlos an Erhard maß und abarbeitete. Man merkte deutlich: Es gibt zwischen Gabriel und Erhard keine innere Beziehung. Gabriel wirkte fast genervt (vielleicht auch, weil er etwas verspätet kam und die Zeit knapp war, bevor er zu einem Redetermin erscheinen musste).

Vor dem Haus, in dem Erhard 1897 geboren wurde, ließ sich Gabriel von der Filmemacherin Evi Kurz die Familiengeschichte erzählen. Hier hatten die Erhards ein Weißwarengeschäft. In den zwanziger Jahren geriet das kleine Familienunternehmen in Schwierigkeiten, die Erhards mussten ihren Wäscheladen schließen. „Pleite gegangen“, kommentierte Gabriel das knurrig. Dann blinzelte er die Sandsteinfassade des Hauses herauf. Im Innenhof fragte er noch schnell, ob das Haus der Familie Erhard gehörte oder ob sie nur zur Miete wohnte. Damit hatte sich sein Interesse nach etwa zwei Minuten erschöpft.

Wer vor Ludwig Erhards Geburtshaus steht, den weht durchaus ein bedeutender Hauch der Geschichte an. Hier machte Erhard die ersten, wohl auch prägenden Erfahrungen mit der Marktwirtschaft als praktischer Kaufmann. Als junger Mann half er seinen Eltern. Trotz Schwierigkeiten und zeitweiligem Scheitern sah er die freie Marktwirtschaft nicht als etwas Bedrohliches an, sondern er behielt seinen Glauben an freies Unternehmertum und Eigeninitiative. Die Marktwirtschaft war für ihn der Motor für eine erfolgreiche Wirtschaft, die Wohlstand für alle schaffen könne.

Die SPD in Fürth hatte Ludwig Erhard schon beinahe verdrängt

In seiner Geburtsstadt Fürth gab es in den Nachkriegsjahrzehnten übrigens einen regelrechten Kleinkrieg um Erhard: Zweimal haben die örtlichen Sozialdemokraten im Stadtrat verhindert, dass Erhard zum Ehrenbürger ernannt wurde. Der heutige SPD-Oberbürgermeister, Thomas Jung, sagt, da habe die Sozialdemokratie „versagt“ und „historische Schuld“ auf sich geladen.

In den achtziger Jahren war Erhards Geburtshaus so heruntergekommen, dass es beinahe abgerissen worden wäre. Dann hat sich die engagierte Filmemacherin Evi Kurz der Sache angenommen. Sie gründete vor Jahren einen Ludwig-Erhard-Initiativkreis, holte jedes Jahr namhafte Politiker als Redner für „Ludwig-Erhard-Gespräche“ nach Fürth.

Krönender Höhepunkt ihrer Initiative soll der Ausbau von Erhards Haus und ein Neubau für ein Bildungs- und Forschungszentrum sein. Bund, Land und Stadt haben Fördermittel in Millionenhöhe zugesagt, mit denen ein Großteil der Baukosten von 15 Millionen Euro für dieses Erhard-Bildungszentrum in Fürth finanziert werden können. Auch Gabriel hat versprochen, aus seinem Haushalt noch ein paar Euro lockerzumachen.

„Ludwig Erhard war kein Neoliberaler“ – Autsch!

Schon seit einiger Zeit erwähnt Gabriel gelegentlich Erhard, manchmal lobend, meist aber eher distanziert. Als „der rote Erhard“ hat ihn der „Spiegel“ einmal tituliert. Was zeichnet ihn als einen Erhard-Nachfolger aus? Die Antwort lautet: „Nichts!“ Mit einer gehörigen Portion Chuzpe versucht er, Erhards Motto „Wohlstand für alle“ so hinzubiegen, dass es für ein sozialdemokratisch-etatistisches Programm Pate stehen soll. Gabriel behauptet, er habe das Buch „Wohlstand für alle“ gelesen, wogegen viele andere „nur den Klappentext“ kennen würden. Dass Gabriel Erhard wirklich verstanden hat – diesen Eindruck hat man nicht.

In Gabriels Rede in Fürth fielen einige Halbwahrheiten und schräge Behauptungen auf. Zu Recht sagte er, Erhards Politik habe nichts mit schrankenlosem Kapitalismus zu tun gehabt. Das stimmt. Erhard stand, beeinflusst von den Ordoliberalen, für eine Soziale Marktwirtschaft durch Leitplanken, etwa das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Marktbeherrschende Stellungen dürfen nicht zum Schaden der Konsumenten ausgenutzt werden, Monopole und Kartelle müsse der Staat verhindern.

Aber insgesamt war Erhard für eine freie Marktwirtschaft in einem Grade, bei dem Gabriel mit den Ohren schlackern würde. „Je freier die Wirtschaft ist, desto sozialer ist sie auch“, sagte Erhard einmal. Fälschlicherweise behauptete Gabriel, Erhard sei kein Neoliberaler gewesen. Die Neoliberalen seien junge FDPler gewesen, die gegen die „damals noch ziemlich rechte alte FDP“ aufbegehrten und das Freiburger Programm (von 1971) entworfen hätten, sagte Gabriel. Autsch! Woher hat Gabriel diesen Unsinn? Ein kurzer Blick ins Archiv oder ein Buch über Ideengeschichte hätte gezeigt, dass die ersten Neoliberalen Ökonomen tatsächlich in den frühen 1930ern lebten und wirkten, vor allem die Freiburger um Walter Eucken, sowie der Soziologe und Ökonom Alexander Rüstow.

Gabriel stellt Kollektivismus vor Eigenverantwortung

Gabriels sozialdemokratische Umdeutung der Erhardschen Politik geht so: Statt der Eigenverantwortung, die der Marktwirtschaftler Erhard betonte, hebt Gabriel die „gemeinsame Verantwortung“ der Sozialpartner hervor. Dank der Flächentarifverträge hierzulande gebe es viel weniger Streiks und Konflikte als in Frankreich. Zu viele Streiks bezeichnete Gabriel als unnötige Wohlstandsvernichtung. Das stimmt wohl.

Doch mit der Tarifautonomie hat es Gabriel auch nicht so. Vehement verteidigte er, dass der Staat seit diesem Jahr einen gesetzlichen flächendeckenden Mindestlohn eingesetzt hat. Staatliche Mindestlöhne seien kein Fremdkörper in einer freiheitlichen Tarifordnung. Auch einige Ordoliberale hätten sie befürwortet. Zumindest in Erhards Buch „Wohlstand für alle“ findet sich davon nichts.

Einige Ordoliberale wie Walter Eucken hatten – als Folge der Verwerfungen während der Großen Depression – zwar geglaubt, eine Lohnuntergrenze könne helfen, weil am Arbeitsmarkt eine anomale Angebotsfunktion vorliege, die zu einem sich selbst verstärkenden Abrutschen der Löhne führe, wenn keine Bremse nach unten vorliege. So schrieb es Eucken während des Krieges in seinem Buch „Grundsätze der Wirtschaftspolitik“, das postum erschien. Die Begründung: Bei sinkendem Lohn würden die Arbeiter ihr Arbeitsangebot erhöhen, um einen nötigen Mindestverdienst zu erreichen; dadurch könnte makroökonomisch das Lohnniveau immer tiefer rutschen. Aber schon kurz nach dem Krieg rückten die  Ordoliberalen von dieser Sorge ab, schließlich gingen die Löhne stetig nach oben.

Der Gedanke, dass der Staat in die Lohnsetzung eingreifen und ein Mindestniveau festlegen solle, wäre ihnen fremd gewesen. Sie glaubten eher an Wirtschaftswachstum durch das Entfesseln der Marktkräfte – was dann auch steigende Löhne nach sich ziehen würde. Erhard warnte vor Eingriffen, die Beschäftigung vernichten könnten. Wenn die Nettolöhne zu gering zum Leben erscheinen, hätten seine ordoliberalen Berater eher für marktkonforme Maßnahmen, beispielsweise eine steuerliche Entlastung der Geringverdiener oder für Einkommenszuschüsse, plädiert. Diese würden den Marktmechanismus im unteren Lohnbereich nicht so (zer-)stören wie die starre Lohnuntergrenze.

Erhard kannte ökonomische Zusammenhänge

Reichlich arrogant klang es bei Gabriel, der sagte, wenn Betriebe weniger als den Mindestlohn zu zahlen imstande seien, „dann haben sie kein Geschäftsmodell“. Tatsächlich? In den neuen Ländern ist gut jeder vierte Beschäftigte in Unternehmen tätig, die bislang weniger als den nun geltenden Mindestlohn zahlen wollten oder konnten. Meint der Wirtschaftsminister, dass alle diese Unternehmen „kein Geschäftsmodell“ beziehungsweise keine Existenzberechtigung hätten und daher besser schließen sollten?

Für Erhard waren die Schlüsselworte seiner Wirtschaftsordnung freier Wettbewerb und freie Preise; Wohlstandszuwächse kommen durch Produktivitätsfortschritte, welche günstigere Preise für Konsumenten und damit höhere Reallöhne bewirken. Löhne oberhalb der Produktivität vernichteten Arbeitsplätze, warnte Erhard. Die Gewerkschaften forderte er zum Maßhalten auf. Diese „Maßhalte-Appelle“ hat Gabriel erst kürzlich in einem Interview kritisiert. Mit seinem „Maßhalte-Appell“ habe Erhard „die Krise“ (1967) noch verschärft. Tatsächlich gab es damals eine winzige Mini-Rezession. Es ist durch nichts erwiesen, dass diese durch zu geringe Lohnabschlüsse verursacht oder verschärft worden sei.

Gabriel sagt „Gleichberechtigung“, das Ergebnis ist Gleichmacherei

Die Chancen, die Erhard in einer offenen Wettbewerbsgesellschaft gesehen hatte, will Gabriel zu Chancen einer staatlich abgesicherten „offenen Einwanderungsgesellschaft“ umdeuten. Erhard erklärte er in seiner Fürther Rede zum „Vater der Einwanderung nach Westdeutschland“, weil er die ersten Anwerbeabkommen für Gastarbeiter unterzeichnete. Toleranz und „offene Gesellschaft“ nannte Gabriel als aktuelle Ziele. Zugleich warb er für „Gleichberechtigung“. Tatsächlich versucht die Politik eine Gleichmacherei zwischen den Geschlechtern und schränkt durch Frauenquoten im Management die unternehmerische Freiheit ein.

Als das Ziel der Globalisierung nannte Gabriel „Gerechtigkeit für alle“ – so zitiert er einen Bischof. Das ist reichlich ambitioniert. Gabriel meinte wohl mehr Verteilungsgerechtigkeit. Die Bürger der SPD-regierten Stadt Fürth klatschen am Ende der Rede recht angetan. Zum Schluss bekam Gabriel Geschenke: eine Erhard-Glasbüste und eine Zigarre aus jenem Tabakgeschäft, in dem Erhard einst Stammkunde war. „Vielleicht werde ich die gleich heute Abend rauchen“, sagte Gabriel. Und vielleicht sollte er dann noch mal das Buch „Wohlstand für alle“ zur Hand nehmen und nachlesen, wie Erhard die Sache mit dem „Wirtschaftswunder“ damals wirklich erklärt hat.

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