Die EU-Kommission hat die – inzwischen nachgebesserten, aber immer noch defizitären – Haushaltsentwürfe Frankreichs und Italiens für 2015 gebilligt. Das Ringen der beiden Länder um eine weniger strenge Auslegung der Haushaltsregeln widerspricht dem Gedanken des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts. Die Ludwig-Erhard-Stiftung nimmt dies zum Anlass, einen Auszug aus einer Rede Ludwig Erhards von 1974 zu veröffentlichen, in der er vor der größten Gefahr für die freiheitliche Ordnung warnt: der Instabilität ihrer Wertmaßstäbe.

Eine Zeitlang schien es so, als habe man sich in allen Parteien bereitgefunden, die Ordnung und den Stil der Sozialen Marktwirtschaft als allgemein anerkannte Voraussetzung unseres öffentlichen Lebens anzunehmen. Seit man jedoch vor einem Jahrfünft begonnen hat, mit der Inflation ein gefährliches Spiel zu treiben und auch die Kräfte zu mobilisieren, die diese Ordnung in Frage stellen wollen, weht der Wind freilich auch in anderer Richtung. Neben denen, die die in fünfundzwanzig Jahren geschaffene Wirtschaftsordnung zerstören möchten, vernimmt man die Stimmen derer, die heute davon sprechen, man müsste zwischen freiem Kapitalismus auf der einen und Staatssozialismus auf der anderen Seite nun endlich daran gehen, einen „dritten Weg“ zu entwickeln, als den wir ja gerade die Soziale Marktwirtschaft seit eh und je angesehen haben.

(…) Was die Lebensordnung der Sozialen Marktwirtschaft bei ihren Anhängern benötigt, ist Kontinuität, durch die die Arbeit der Vergangenheit mit den Anstrengungen der Gegenwart und dem Blick auf die Zukunft verbunden wird. Wenn ich mich in dieser Stunde, die ein guter Anlass für eine Besinnung auf den Geist ist, in dem die Soziale Marktwirtschaft begriffen werden muss, frage, was denn das Gemeinsame der Bemühungen um diese Ordnung nicht nur von uns, sondern von einem weitgestreuten Freundeskreis ausmacht, so möchte ich sagen: Die Soziale Marktwirtschaft erscheint mir als Erkundung, ob durch eine Mobilisierung der freiheitlichen Kräfte in unserer Zeit zugleich eine gesellschaftliche und soziale Ordnung geschaffen werden kann.

Diese Arbeit der letzten dreißig Jahre sollte die Vereinbarkeit einer freien Gesellschaftsordnung im europäischen Sinne mit dem Ziel des sozialen Fortschritts erproben. Ich hoffe, – nein ich wage sogar zu behaupten, dass diese Erprobung sich bewährt hat, dass in der Tat in einer freien Ordnung humane Möglichkeiten des wirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen und politischen Fortschritts verwirklicht werden konnten. In immer weitere Lebenskreise hinein hat sich die Soziale Marktwirtschaft zu einer „Stilform unseres Lebens“ entwickelt. So begreifen wir heute die Soziale Marktwirtschaft als eine Lebensordnung im Sinne und im Geiste der europäischen Freiheit. Sie soll ein organisches Gefüge schaffen, in dem die Freiheit gilt, zugleich aber die Möglichkeiten sozialer und gesellschaftlicher Sicherung tatkräftig verwirklicht werden. Wenn wir von Ordnung sprechen, so ist dieser Begriff eine Konzeption für das, was getan werden kann, und zugleich eine Warntafel für das, was nicht getan werden darf, wollen wir nicht das hohe Ziel einer einmaligen Synthese freiheitlicher Ordnung und sozialer Wirklichkeit verspielen.

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang auch ein Wort zur heutigen Stabilitätspolitik sagen. Nichts bedroht eine freiheitliche Ordnung mehr als die Instabilität ihrer Wertmaßstäbe. Wir erleben es gegenwärtig, wie sehr zunehmende Geldwertinstabilität in der Welt, aber auch in der Bundesrepublik den gefügten Ordnungsrahmen, den wir in den letzten Jahrzehnten erringen konnten, in Frage stellt. Es gelang in den fünfziger und zu Beginn der sechziger Jahre, die Stabilität unserer D-Mark so zu festigen, dass die Preissteigerungsrate im Schnitt der Jahrzehnte von 1,9% gehalten wurde. Das war, wenn wir keine unvernünftigen Anforderungen an die Wirklichkeit stellen, eben Stabilität. (…) Alle unsere Bemühungen um die Dauerhaftigkeit einer stabilen Lebensordnung werden scheitern, wenn es nicht gelingt auf diesem Feld wieder eine echte Wertbeständigkeit herzustellen; denn finanzielle Instabilität bedeutet mehr als nur Preissteigerungen; sie ist zugleich ein Ferment der sozialen Unruhe, der politischen Polarisierung, der nationalen Abkapselung von der freien Weltwirtschaft und der gegenseitigen Verhetzung.

Auszug aus einer Rede, die Ludwig Erhard anlässlich der Verleihung des Freiherr-vom-Stein-Preises am 6. November 1974 im Schloss Auel, Wahlscheid/Siegkreis gehalten hat.

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