Professorin Theresia Theurl, Mitglied der Ludwig-Erhard-Stiftung, kommt zu dem Schluss, dass die Europäische Zentralbank (EZB) über das Schicksal der Europäischen Union entscheiden könnte.

Deutlich zeigt sich in der gegenwärtigen Situation, dass Geld nicht nur Transaktionsmedium ist, also ein effizienzsteigerndes Element zur Stärkung der Funktionsfähigkeit von Märkten, sondern auch als wirtschaftspolitisches, gar politisches Medium genutzt wird, das vielfältige Interessen spiegelt. Zusätzlich fällt auf, welch außerordentlich große Macht der Zentralbank der Eurozone gegenüber Regierungen und in der Interpretation der vertraglichen Regelungen und Statuten bei der Ausübung des eigenen Mandats zugestanden wird. Dabei ist einzuräumen, dass sich die Notenbank durch die Passivität der Staaten bezüglich notwendiger Reformen und/oder durch die Erwartungen der Finanzmarktteilnehmer, die sie freilich selbst geschürt hat, in diese Rolle gedrängt sieht. Schließlich wird sehr deutlich, dass die eingängige Forderung „EIN Markt braucht EINE Währung“ sowie die Überzeugung, dass für die Schaffung der Euro-Währungsunion von Beginn an vor allem deren politische Dimensionen im Vordergrund zu stehen hätten, eine große Toleranz gegenüber Konstruktions- und Managementdefiziten der Währungsunion hervorgerufen haben. Dieser Hintergrund sollte beachtet werden, wenn die Frage beantwortet werden soll, ob die europäische Geldpolitik richtig ist. Denn es ist nicht auszuschließen, dass sich in dieser Gemengelage inzwischen auch das Bewertungskriterium geändert hat, was eine gute Geldpolitik ist. Manche offizielle und kommentierende Aussagen deuten darauf hin. Blickt man auf das aktuelle Geschehen, sind zumindest folgende Aspekte bemerkenswert.

Erstens: die fehlenden Bemühungen um eine Exit-Strategie

Dass in der Finanzmarktkrise und der darauf folgenden Unsicherheit über den Zustand der Bilanzen von Banken, Unternehmen und Staaten eine Liquiditätsoffensive umgesetzt wurde, die Krise nicht verschärft, sondern gemildert werden sollte, ist – auch unter Berücksichtigung historischer Erfahrungen – gute Geldpolitik. Außergewöhnlichen Situationen sollte mit temporären Maßnahmen begegnet werden. Doch seither sind Jahre vergangen, und es zeichnet sich kein Exit aus der Krisenpolitik ab. Ganz im Gegenteil: Die expansiven Maßnahmen wurden deutlich intensiviert, die Erwartungen von Finanzmarkteilnehmern, Staaten und Bürgern in eine bestimmte Richtung kanalisiert und die Bereitschaft, Risiken einzugehen, deutlich gefördert. So wird nahegelegt, dass es sich nicht um Krisenpolitik, sondern um „Geldpolitik für normale Zeiten“ handelt. Die Suche nach einer Exit-Strategie, ein Thema der ersten Krisenjahre, scheint aufgegeben; zumindest sind solche Ankündigungen und Forderungen weitgehend verstummt.

Zweitens: die Aushöhlung der wirtschaftspolitischen Arbeitsteilung

Waren Ordnungspolitiker und mit ihnen viele Ökonomen einmal der Überzeugung, dass die Geldpolitik mit monetärer Stabilität eine regelorientierte Vorleistung für Wirtschaft und Gesellschaft zu erbringen hätte und für die Mikro- und Makropolitik andere und direkt greifende wirtschaftspolitische Instrumente zur Verfügung stünden, so scheint diese Form der wirtschaftspolitischen Arbeitsteilung heute obsolet zu sein. Mehr noch: Geldpolitische Maßnahmen sind zum Kern jeglicher Wirtschaftspolitik geworden und entlasten alle anderen Akteure. Der Verzicht auf politisch nicht opportune Maßnahmen oder auf die Inangriffnahme von notwendigen Strukturreformen in vielen Staaten der Währungsunion wird durch die Aktivitäten der EZB deutlich erleichtert. Wichtige Zeit geht verloren, und Reformen werden verzögert. Es kann keine sinnvolle Begründung geldpolitischer Maßnahmen sein, dass die Notenbank als einziger Akteur derzeit handlungsfähig sei.

Drittens: der Qualitätsverlust der Zentralbankbilanz

Nicht überraschend hat die Geldpolitik der vergangenen Jahre tiefe Spuren in der Bilanz der EZB hinterlassen. Es zeigt sich nicht nur eine starke und aktuell neuerliche Ausweitung der Bilanz, sondern die Aktivseite spiegelt vor allem die außergewöhnlichen Transaktionen durch den Kauf von Staatspapieren, Schuldscheinen von Banken und inzwischen auch Anleihen von Unternehmen. Die normalen Kanäle der Geldschaffung und die zugrundeliegenden Transaktionen sind in den Hintergrund getreten; auch die Negativzinsen der Zentralbank tragen dazu bei. Im Zuge der durch die Zinspolitik unterstützten Entwicklungen verringern sich auch die Zentralbankgewinne. Interessant sind zunehmende Hinweise darauf, dass die Bilanzen von Staat und Notenbank sinnvollerweise ohnehin zu saldieren seien und nur der Gesamtsaldo aussagekräftig sei. Das starke Engagement der Zentralbank auf Sekundär- und Primärmarktsegmenten für Anleihen reduziert zusätzlich das Angebot für die Marktteilnehmer.

Viertens: die Vermischung von Geld- und Finanzpolitik

Eine der grundlegenden Merkmale des aktuellen monetären Regimes ist die Vermischung von Geld- und Finanzpolitik. Sie wurde über viele der geldpolitischen Programme (SMP, OMT, QE) ermöglicht und beinhaltet die Monetisierung der Staatsverschuldung von Mitgliedsländern der Europäischen Währungsunion sowie indirekt auch die Finanzierung von staatlichen Budgetdefiziten. Dies war häufig verbunden mit dem Auffangen Not leidender Banken und Unternehmen durch die Staaten. Es mag vor diesem Hintergrund nicht verwundern, dass dieses ehemalige Tabu der Notenbankpolitik heute nicht mehr ganz so eng gesehen wird und auch Maßnahmen wie das Helikoptergeld Eingang in geldpolitische Diskussionen gefunden haben.

Fünftens: die Umsetzung einer asymmetrischen Geldschöpfung

Dass die Europäische Währungsunion einen heterogenen Mitglieder-Mix aufweist war immer bekannt, ebenso, dass die Volkswirtschaften eigentlich unterschiedliche monetäre Bedarfe haben, die Geldpolitik also nie alle Mitglieder zufriedenstellen kann. Doch ist mittlerweile evident, dass sich im einheitlichen Währungsraum nicht nur schädliche Anreizstrukturen für Verschuldung und Finanzierung herausgebildet haben, die die Finanzmarktkrise wirksam werden ließen, sie zumindest verstärkt haben. Vielmehr war auch in der Bewältigung der Krise eine national orientierte Geldversorgung möglich (Stichwörter: Anfa-Geheimabkommen, ELA-Notkredite). So stand der Annahmegemeinschaft, die das Kennzeichen einer Währungsunion ist, nur bedingt eine Emissionsgemeinschaft als notwendige Begleiterin einer stabilen Union gegenüber. Die asymmetrische Geldschöpfung muss also neben den offensichtlichen finanziellen Unterstützungen von Staaten und Banken als ein Transferelement der heterogenen Eurozone gesehen werden.

Sechstens: die monetäre Beeinflussung von Wirtschaftsstrukturen

Die aktuelle Zins- und Liquiditätspolitik hat durch ihre strukturellen Wirkungen weitere Kollateraleffekte. Hat der Kauf von Staatsanleihen und die Entwicklung ihrer Renditen dieses Marktsegment längst verzerrt, wird der Kauf von näher spezifizierten Unternehmensanleihen weitere Wirkungen haben, weil in die Finanzierungsmöglichkeiten und -konditionen privater Unternehmen des Binnenmarktes direkt eingegriffen wird. Auch auf diesem Marktsegment werden sich die Wettbewerbsbedingungen zulasten von Unternehmen, die sich nicht über Anleihen finanzieren (können), verändern und die Anreizstrukturen verzerren, dies in Richtung der Abwälzung von Risiken unternehmerischer Entscheidungen. Doch die Niedrig- bzw. Negativzinspolitik der EZB wirkt sich auch auf die Struktur des bewährten Drei-Säulen-Bankensystems in Deutschland aus, werden doch gerade jene Banken am stärksten negativ betroffen, die direkt Kredite an die Realwirtschaft gegeben. Dies sind vor allem die mittelständischen Banken, konkret die Sparkassen und die Genossenschaftsbanken. Insgesamt werden effizienzfördernde Marktsignale großflächig außer Kraft gesetzt.

Siebtens: die Verteilungseffekte der Geldpolitik

Die aktuelle Geldpolitik ruft nicht nur allokative, sondern auch distributive Verzerrungen hervor. So ist zu befürchten, dass es zu einer Enteignung von Sparern und Einkommenseinbußen für Privathaushalte kommt, die insgesamt nicht durch die Einsparung bei den Kreditzinsen kompensiert werden können. Es ist davon auszugehen, dass es zu einer Umverteilung von Privaten zu Banken und Staaten mit ungelösten Problemen kommt, dies verstärkt durch eine Umverteilung innerhalb der Europäischen Währungsunion. Das geldpolitisch verursachte Zinsumfeld schafft anhaltende Risiken für Pensionsfonds, Lebensversicherungen und Bausparkassen, was mit Gefahren für die private Altersvorsorge mit entsprechenden nachhaltigen Wirkungen verbunden ist.

Fazit

Wer sich heute mit der europäischen Geldpolitik auseinandersetzt, ist an die berühmte Aussage von Joseph Schumpeter erinnert: „Im Geldwesen eines Volkes spiegelt sich alles, was dieses Volk will, tut, erleidet, ist; und zugleich geht vom Geldwesen eines Volkes ein wesentlicher Einfluss auf sein Wirken und auf sein Schicksal überhaupt aus.“ Entscheidet die Europäische Zentralbank über unser Schicksal und über jenes der Europäischen Union? Auszuschließen ist es nicht.

Lesen Sie zu diesem Thema auch:

„Die Politik der EZB birgt Gefahren für die Europäische Union“ von Thomas Mayer

„Die EZB ist der Erfüllungsgehilfe einer falsch konstruierten Währungsunion“ von Joachim Starbatty

„Ist die europäische Geldpolitik richtig?“ von Richard Reichel

„Die Notenbanken haben ihr Pulver verschossen“ von Oswald Metzger

„Gefährliche Geldpolitik“ von Klaus Bünger

„Die enthemmte Zentralbank“ von Hans-Werner Sinn

„EZB: Dem Geld-Diktator entgegentreten“ von Roland Tichy

DRUCKEN
DRUCKEN