DIW-Präsident Marcel Fratzscher prangert in seinem kürzlich erschienenen Buch die hohe Ungleichheit von Vermögen und Einkommen in Deutschland an, was negative Folgen für die gesamte Gesellschaft mit sich bringe. Die Lösung des Problems seien „mehr Chancen“ – jedoch nicht „mehr Staat“, „mehr Steuern“ oder „mehr Umverteilung“. Gemeinsamkeiten mit Ludwig Erhards Ideen sind erkennbar: Nach Erhard ist die Marktwirtschaft an sich „sozial“, sodass die Umverteilung auf das unstrittig Notwendige beschränkt werden kann; wichtig ist, dass jeder die Chance erhält, am Markt teilzuhaben. Durch Ordnungspolitik soll jedem die Chance zur freien und eigenverantwortlichen Gestaltung seiner Lebensumstände gegeben werden.

Nachfolgend lesen Sie die zentralen Thesen von Marcel Fratzscher.

„Wohlstand für alle“ – nach Ludwig Erhards berühmter Formel – ist das Ziel, dem sich die deutsche Wirtschafts- und Sozialpolitik seit fast 60 Jahren verschrieben hat. Dahinter steht das Credo der Sozialen Marktwirtschaft, also der Glaube an eine marktwirtschaftliche Ordnung, die eine Absicherung aller Bevölkerungsgruppen und einen Ausgleich zwischen ihnen gewährleisten soll. So sollte sichergestellt werden, dass das Wirtschaftswunder Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur einigen wenigen zugutekam, sondern vielen. Die Ungleichheit zwischen den Bürgern sollte begrenzt werden – bei Einkommen und Vermögen, bei der Chancenverteilung, Bildung, Beschäftigung, der sozialen Sicherung sowie Gesundheit und Altersvorsorge.

Deutschland ist stolz auf die soziale Dimension seiner Marktwirtschaft. Mein Buch „Verteilungskampf – Warum Deutschland immer ungleicher wird“ hat Belege dafür angeführt, dass wir nicht in einem Land leben, in dem ein Ausgleich über Einkommen, Vermögen und Chancen stattfindet. Deutschland ist an diesem Ideal gescheitert. Es bietet seinen Bürgern nur eine begrenzte soziale Sicherung. Und vor allem beschränkt es die Freiheit seiner Bürger: Immer weniger Menschen in unserem Land haben eine wirkliche Chance, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und zu nutzen, für sich und für die Gesellschaft als Ganzes.

Ineffiziente Umverteilung in Deutschland

Es ist wichtig, dass wir aufhören, die Soziale Marktwirtschaft mit verklärtem Blick zu betrachten. Damit sie sozial bleiben kann, ist zunächst eine ehrliche Bestandsaufnahme vonnöten: Deutschland hat sich großen Wohlstand erarbeitet – aber auch viel verschenkt. Und es ist dabei, den Wohlstand zukünftiger Generationen aufs Spiel zu setzen. Sicher und gut abgesichert sind nicht viele, sondern nur einige. Der Staat spielt eine wichtige Rolle in unserer Gesellschaft und hilft vielen Menschen, vor allem denen aus der Mittelschicht – aber zu sehr dabei, ihre Einkommensposition nicht zu verschlechtern, und viel zu wenig dabei, ihr Potenzial auszuschöpfen und sich selbst eine bessere Zukunft zu erarbeiten.

Der Staat verteilt viel durch Steuern und Sozialleistungen über gesellschaftliche Gruppen hinweg um. Aber er tut dies sehr ineffizient. Wohlhabende unterstützen über ihre Steuergelder andere Gruppen der Gesellschaft, aber deutlich zu oft andere Wohlhabende. Viele Bürger unseres Landes können frei leben und sich entfalten, viele aber auch nicht. Frauen, Migranten, Kinder aus bildungsfernen oder sozial schwachen Familien – es gibt viel zu viele Gruppen in unserer Gesellschaft, die systematisch benachteiligt sind, die auf ihrem Berufs- oder Bildungsweg viel zu oft an Barrieren stoßen und diese nur selten überwinden. Das vergrößert die Ungleichheit in unserem Land stetig.

Der Schlüssel für die steigende Ungleichheit in Deutschland ist diegeringe gesellschaftliche und wirtschaftliche Mobilität, die nicht nur im internationalen Vergleich ohnehin schon gering ist, sondern in den vergangenen Jahren noch schlechter geworden ist. Nirgendwo werden die persönlichen Entwicklungschancen so sehr von der Herkunft bestimmt. Nirgendwo schaffen weniger Kinder den sozialen Aufstieg. Nirgendwo gehen weniger Arbeiterkinder zur Universität. Nirgendwo verbleibt Reichtum so oft über Generationen hinweg in denselben Familien. Nirgendwo bleibt arm so oft arm und reich so oft reich. Und das schadet diesen Einzelpersonen, der Wirtschaft, der Gesellschaft und Demokratie im Lande, kurzum: uns allen.

Für den demografischen Wandel und die Zuwanderung schlecht gerüstet

Die Höhe des Einkommens eines Arbeitnehmers in Deutschland wird zur Hälfte – statistisch gesehen – nicht etwa durch Fleiß, Fortbildungswillen und Einsatz bestimmt, sondern durch das Einkommen und den Bildungsstand der Eltern. Persönliche Aufstiegschancen sind in vielen Fällen von Geburt an begrenzt, die Weichen vor der Geburt gestellt. Persönlicher Fleiß, Ehrgeiz und Einsatz bestimmen nicht maßgeblich über die Karriere. Dass benachteiligte Kinder seltener oder später in eine Kita gehen, in einem ärmeren Stadtteil wohnen, weniger gefördert werden, vergrößert die Kluft weiter. Wird dann, obwohl die Intelligenz und Potenziale auch für eine höhere Schule reichen würden, nur ein mittlerer oder niederer Schulabschluss empfohlen und angestrebt, ist eine der wichtigsten Entscheidungen schon gefallen – zuungunsten des Kindes und der Gesellschaft. Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Die Aufstiegschancen der Menschen sind – auch wenn unser Land von vielen als gerecht wahrgenommen wird – deutlich schlechter als an vielen anderen Orten der Welt. Nur wenige schaffen es, sich im Laufe ihres Lebens einen besseren Lebensstandard zu erarbeiten als ihre Eltern.

Auch das finanzielle Vermögen der Mehrzahl der Deutschen ist gering und deutlich kleiner, als es sein könnte und sollte. Das liegt nicht daran, dass wir Deutschen uns so gut auf die sicheren und großzügigen staatlichen Leistungen verlassen können. Denn diese Leistungen sind erstens keine Vermögen und zweitens – denken wir nur an die Rente – keineswegs sicher. Der deutsche Staat lebt schon seit vielen Jahren von seiner Substanz. Er hat sein Nettovermögen fast vollständig aufgebraucht und ist für die kommenden Herausforderungen – etwa den demografischen Wandel und die Zuwanderung – schlecht gerüstet.

Die wahren Gründe für die geringen Vermögen sind andere: historische, wie die große Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg und der Neuanfang, den vor allem die Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung machen mussten. Es liegt auch an unserer sehr speziellen Wirtschaftsstruktur, die sich auf überdurchschnittlich viele Familienunternehmen stützt und so das Kapital auf wenige Familien konzentriert. Und es liegt daran, dass wir Deutschen unser Geld extrem schlecht anlegen. Wir haben wenig Aktien, wenig Immobilienvermögen und lassen unser Geld auf der Bank, obwohl es dort oft nicht mehr wird, sondern an Kaufkraft verliert. Und deutsche Anleger haben in den vergangenen Jahrzehnten ihr Geld im Ausland schlecht investiert und hohe Verluste realisieren müssen.

Ungleiche Verteilung von Vermögen und Markteinkommen

Auch bei den Vermögen spielt die geringe Mobilität eine entscheidende Rolle: Nahezu nirgendwo besitzen die reichsten 10 Prozent der Bürger mehr und die ärmsten 40 Prozent weniger des im Land vorhandenen Gesamtvermögens. Die Ausgangsbedingungen sind also höchst unterschiedlich und die Aufstiegschancen begrenzt. Ein Teufelskreis. Denn wer sein Potenzial schlechter nutzen kann, verdient weniger, sammelt weniger Vermögen an und kann seinen Kindern schlechtere Ausgangsbedingungen bieten.

Wer sein Potenzial schlechter nutzt, erzielt auch geringere Markteinkommen. Nahezu nirgendwo in Europa sind die Markteinkommen ungleicher als in Deutschland. Das sei aber nicht so schlimm, sagen viele, denn der deutsche Staat verteilt kräftig um und sorgt so dafür, dass die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen – was der Mensch in der Tasche hat – wieder im internationalen Mittelfeld landet. Das stimmt. Dank der Umverteilung des deutschen Steuer- und Transfersystems sinkt die starke Ungleichheit der Markteinkommen um mehr als 40 Prozent. Der Gini-Koeffizient geht von 0,51 auf 0,29 zurück. Das muss er auch, denn die Ungleichheit der Markteinkommen – also die vor Steuern, Transfer- und Sozialleistungen – ist deutlich größer als in vielen anderen Industrieländern.

Die Markteinkommensungleichheit sei, so ist immer wieder zu hören, zumindest teilweise politisch gewollt und diene als Anreiz. Wer Risiken eingeht, Arbeitsplätze schafft, investiert und Innovationen vorantreibt, soll dafür auch die Ernte einfahren dürfen. Das ist völlig richtig. Aber genau deswegen sollten wir uns weniger auf die sprichwörtlichen „oberen Zehntausend“, auf die Spitze der Einkommens- und Vermögenspyramide konzentrieren. Das wirkliche Drama spielt sich bei den 40 Prozent unserer Bürger am unteren Ende der Einkommens- und Vermögensverteilung ab, denen die Chancen fehlen, ihre Talente zu nutzen.

Mehr Chancengleichheit durch Bildung

Was wäre, wenn der Staat gar nicht erst umverteilen müsste, weil es durch mehr Chancengleichheit einen faireren Wettbewerb gäbe und sehr viel mehr Menschen ihre Fähigkeiten und Talente nutzen könnten? Sollte dies nicht unser Ziel sein, damit der Staat schlanker, der Verteilungskampf kleiner und in großen Teilen überflüssig wäre? Jeder Verteilungskampf kostet Geld und Energie, die nicht in das Wirtschaftswachstum und die Wohlstandsmehrung fließen, sondern ihr oft schaden. Es muss unser Ziel sein, den Menschen die Fähigkeit zurückzugeben, selbständiger, unabhängiger vom Staat und selbstbestimmter agieren zu können.

Um noch mal Ludwig Erhard zu Wort kommen zu lassen: „Das mir vorschwebende Ideal beruht auf der Stärke, dass der Einzelne sagen kann: Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.“ Eine „soziale“ Marktwirtschaft ist vor allem dann sozial, wenn sie Menschen in die Lage versetzt, ihre Potenziale auszuschöpfen und das aus ihrem Leben machen zu können, was sie für das Richtige halten.

Das mir vorschwebende Ideal beruht auf der Stärke, dass der Einzelne sagen kann: »Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge du, Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.« (Ludwig Erhard 1957)

Um dies zu erreichen, müssen wir unsere Marktwirtschaft und vor allem unser Bildungssystem neu justieren und stärker auf Chancengleichheit ausrichten. Möglichst früh im Leben unserer Kinder müssen die Potenziale entfaltet werden. Mehr Kinder müssen in bessere Kitas gehen, eine bessere Betreuung etwa durch Ganztagsschulen erleben und so einen besseren Start ins Berufsleben erhalten. Bildungsbarrieren im frühkindlichen Alter, beim Übergang in weiterführende Schulen, beim Schulwechsel und beim Übergang in den Beruf müssen deutlich reduziert werden. Sonst droht die bildungsbedingte Einkommenslücke im Verlauf eines Lebens immer größer zu werden – und mit ihr der Schaden für die Gesellschaft.

Ungleichheit als Gefahr für die Demokratie

Von zu hoher Ungleichheit werden nicht nur die Einzelpersonen, sondern auch die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt geschwächt. Die große Ungleichheit hat zu den beiden großen Wirtschaftskrisen der vergangenen Jahre beigetragen. Der deutsche Beitrag sollte dabei nicht unterschätzt werden. Die Gesellschaft verliert durch die steigende Ungleichheit an Halt. Denn steigende Ungleichheit schädigt in Deutschland vor allem die Mittelschicht. Also die Menschen, die bislang ihr Rückgrat waren. Globalisierung und technologischer Fortschritt führen zu einer Job-Polarisierung: Wer gut ausgebildet und flexibel ist, kann von der zunehmenden Technologisierung profitieren, weil sie viele neue, gute Jobs schafft und die Einkommen steigen lässt. Wer schlecht ausgebildet ist, verliert schnell den Anschluss.

Die Gesellschaft hat handfeste wirtschaftliche Gründe, bessere Bildung und Chancengleichheit als Versicherung aufzufassen, die Chancen des technologischen Fortschritts und der Globalisierung zu nutzen. Attraktive Bildungsrenditen locken nicht nur Universitätsabsolventen, sondern Menschen aller Bildungs- und Ausbildungsniveaus. Es lohnt sich fast immer für Menschen, in Bildung zu investieren und das Bildungsniveau zu verbessern – und dies nutzt allen. Der Gesellschaft als Ganzes winkt durch Bildungsinvestitionen und mehr Chancengleichheit eine „doppelte Dividende“: Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes verbessert sich, und die Ungleichheit in Einkommen und Vermögen sinkt.

Keine Demokratie hat das Ziel, allen Menschen gleiche Vermögen, Einkommen und Beschäftigung zu garantieren. Aber sie will Chancengleichheit bieten. Ungleichheit wird dann zum sozialen Problem, wenn sie Chancen und soziale Teilhabe einschränkt. Wenn sie dann noch die politische Teilhabe reduziert oder verhindert, gefährdet sie das Funktionieren der Demokratie und wird zur Gefahr für die Demokratie selbst.

Deutschland kann seinem Anspruch einer Sozialen Marktwirtschaft nur dann gerecht werden, wenn es sehr viel mehr seiner Energie auf die Schaffung von Chancengleichheit verwendet. Dazu gehört eine Politik der Integration, die deutlich mehr Menschen als bisher eine wirtschaftliche, soziale und politische Teilhabe ermöglicht. Dies erfordert ein fundamentales Umdenken in allen Bereichen, von der Familien- und Bildungspolitik bis hin zu einer grundlegenden Veränderung der Steuern- und Abgabenpolitik. Stellen wir uns den Tatsachen: Deutschland wird immer ungleicher, der Verteilungskampf härter. Das Problem existiert und es wird nicht kleiner, sondern größer – wenn wir nichts tun.

Der vorliegende Text von Professor Marcel Fratzscher ist eine Zusammenfassung zentraler Thesen seines Buches „Verteilungskampf – Warum Deutschland immer ungleicher wird“, erschienen 2016 im Hanser Verlag.

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