Rente mit 63, Mütterrente, Mindestlohn, Mietpreisbremse: Im Namen der sozialen Gerechtigkeit bringt die Bundesregierung ein Großprojekt nach dem anderen auf den Weg.

Fleißig ist sie schon, die Große Koalition. In Rekordzeit bringt sie im Namen der sozialen Gerechtigkeit ein Großprojekt nach dem nächsten auf den Weg. Sie hat das Mütter- und Frühverrentungsgesetz verabschiedet, Mindestlöhne eingeführt, die Reform des Energiereformgesetzes reformiert, und im Herbst soll die Mietpreisbremse folgen. Widerstand gegen diese die Regeln der Marktwirtschaft außer Kraft setzenden Maßnahmen regt sich im Bundestag kaum – die ohnehin schwachbrüstige Opposition will ja auch nichts grundsätzlich anderes, sondern mehr von demselben: höhere Mindestlöhne, höhere Renten für mehr Begünstigte, rüderes Vorgehen gegen Hauseigentümer.

Und dabei fällt auf: So, wie sich alle im Bundestag vertretenen Parteien letztlich gemeinsam hinter diese Projekte stellen, so berufen sich immer wieder alle quer durch alle Lager auf Ludwig Erhard – seine eigene Partei, die CDU, übrigens noch am vorsichtigsten. Sie wird schon wissen, warum. Bei der Linken ist Sahra Wagenknecht bemüht, sich als Schülerin des großen Wirtschaftsmeisters zu inszenieren. Sigmar Gabriel von der SPD hält Erhard-Gedächtnisreden. Nun ist es ja bekanntlich eine zweischneidige Sache damit, Vorbilder öffentlich aufs Podest zu hieven – denn kein Podest ist hoch genug, dass nicht Tauben das schöne Denkmal mit ihrer Hinterlassenschaft beflecken. Ebenso wenig vermag sich ein wissenschaftlicher Denker und Politiker wie Ludwig Erhard posthum gegen den Unsinn zu wehren, der über ihn verbreitet wird.

Auf dem Weg zum „Wohlstand für Alle“

Wie aber hätte Erhard nun die Rentenreformen tatsächlich beurteilt? Eines der Grundprinzipien seiner Überlegungen war das, was man heute mit „Nachhaltigkeit“ umschreibt. Die Wirtschaft sollte so ausgestaltet sein, dass sie „Wohlstand für Alle“ dauerhaft schafft – so sein legendärer, programmatischer Buchtitel. Genau diesem Prinzip aber widersprechen beide Teile der Reform, die der CDU so wichtige Mütterrente wie die Frühverrentungs-Programme der SPD. Denn eine Tatsache, die von niemandem ernsthaft bestritten wird, ist: Mit diesen Reformen werden vergleichsweise gut gestellte Rentenbezieher der Gegenwart noch etwas besser gestellt, die drohende Altersarmut kommender Rentnergenerationen aber verschärft. Sich dabei auf Erhard zu beziehen, heißt Schwarz in Weiß umzufärben.

Erhards Grundüberlegungen gehen ohnehin sehr viel tiefer, und seine Werke als Steinbruch für eigene Begründungsmosaike zu benutzen, macht keinen Sinn. Marktwirtschaftliche Politik war für ihn nicht kurzfristig instrumental, um ein momentan erstrebenswertes Ziel wie höhere Renten oder niedrigere Mieten zu erreichen. Marktwirtschaft ist kein Lenkungsinstrument in der Hand von Politikern und Bürokraten, die meinen, wirtschaftliche Prosperität administrativ, mit Gesetzen und Verordnungen herbeizaubern zu können. Wachstum, Innovation und Arbeitsplätze lassen sich auch heute nicht per Dekret und im Bundesgesetzblatt verankern.

Ludwig Erhard ging es um die Ordnung der Wirtschaft und gleichzeitig um eine Gesellschaft, die den Bürgerinnen und Bürgern ein Leben in Freiheit, Wohlstand und Eigenverantwortung ermöglicht. Gerade dieser Punkt aber ist es, der heute unterschlagen wird. Man meint offenbar, mit „Erhard light“ auszukommen. Aber das kann nicht glaubwürdig funktionieren, denn neben der spezifischen Betrachtungsweise über Aufgaben und Methoden der Wirtschaftspolitik war für Erhard eine über das Ökonomische hinaus gehende gesellschaftspolitische Sicht kennzeichnend.

Die Wirtschaft umfasst einen zentralen Lebensbereich, der angemessen geordnet sein muss, damit sich gesellschaftliche und soziale Verhältnisse zufriedenstellend entwickeln. Kernpunkt der existenzsichernden Funktion von Wirtschaft ist, dass jeder für sich selbst sorgen kann und nicht auf Kosten anderer leben muss. Die Betonung liegt hier auf „muss“. Die Abhängigkeit weiter Bevölkerungsteile heute von Bürokratien, die Einkommen und Lebensstile verwalten, wäre für Erhard ein Gräuel gewesen. Die minutiöse, kleinteilige Durchleuchtung der Verhältnisse von Menschen und ihrer Lebensweise, wie sie beispielsweise die Regelungen sozialer Unterstützungsleistungen heute erzwingen, hätte er als menschenunwürdig betrachtet.

Das Soziale – ein weites Feld

Für Erhard bedeutete „sozial“ nicht, Marktwirtschaft mit möglichst viel Sozialpolitik zu verbinden. Eine Ausweitung der Sozialleistungen, wie sie derzeit von allen Regierungen als besondere Leistung beklatscht wird, stellt im Erhardschen Sinne im Gegenteil ein Versagen dar. Kurzfristige Umverteilung mag vielleicht bei extremen Situationen angemessen sein – sie ist aber nicht viel mehr als ein hilfloses Herumdoktern und Herumoperieren. Gelungene Wirtschaftspolitik sollte dazu beitragen, Menschen zu selbstbestimmtem Leben zu befähigen und es ihnen zu ermöglichen, ohne Formularschlacht mit dem Amt auszukommen.

Nach Erhards Vorstellung muss die Wirtschaftsverfassung so gestaltet sein, dass sie zugleich soziale Funktionen erfüllt: die direkte Teilhabe aller an wirtschaftlichen Fortschritten und Zuwächsen, ohne Umwege über den Staat oder über staatliche Kassen der sozialen Hilfe. Diese Vorstellung ist weder reines Wirtschafts- noch klassisches Politikprogramm. Ausgehend von der Wirtschaftswirklichkeit gilt für Erhard der Einzelne uneingeschränkt als mündig, seine Bedürfnisse stehen im Zentrum. Das schließt aus, dass der Alltag und das Zusammenleben von Menschen in Normen gepresst, von vermeintlichen „Rationalitäten“ dominiert, im Hinblick auf soziale Ziele reguliert oder auf bestimmte Funktionen in Wirtschaft und Gesellschaft reduziert werden.

Von Risiken und Nebenwirkungen

Erhards Sicht war aufgrund der Erfahrungen während des Nationalsozialismus von Misstrauen geprägt gegenüber planwirtschaftlichen, dekretierten Lösungen, die den Einzelnen noch dazu in eine ganz bestimmte, staatlich gewünschte Richtung leiten oder notfalls zwingen wollen. Und sie war geprägt von dem Wissen, dass Wirtschaft mehr ist als eine Waschmaschine, die von Politikern und Beamten bei Bedarf repariert werden kann. Deshalb war er gegen punktuelle Eingriffe – weil er die Risiken und Nebenwirkungen, das ganze Panoptikum von systematischen Wechselwirkungen kannte, die einzelne Maßnahmen auszulösen imstande sind.

Die Energiepolitik der jetzigen und ihrer Vorgängerregierungen ist hier das beste Beispiel: Erhard hätte leidenschaftlich gegen die marktbeherrschende Stellung der großen vier Stromkonzerne gekämpft. Aber er hätte sicherlich nie einzelne Techniken der Stromerzeugung subventioniert, wie es das Erneuerbare-Energien-Gesetz vornimmt – in der Folge werden wir noch zwanzig Jahre überhöhte Strompreise für Solartechniken zahlen, die seit ebenfalls zwanzig Jahren überholt sind, und erleben die brutale Umgestaltung letzter naturnaher Räume in Standorte für Stromfabriken, die mit dreistelligen Milliardenbeträgen subventioniert werden.

Wer gegenwärtig Politik im Sinne Erhards betreiben will, müsste Marktwirtschaft als Ordnungsprinzip verstehen und anwenden. Marktwirtschaft ist bei uns aber Lenkungsinstrument in der Hand von Politik und Bürokratie geworden – Wachstum, Innovation und Arbeitsplätze sollen per Dekret herbeizuführen sein. Es gibt kaum ein wirtschaftliches Problem, für das dem findigen Politikprofi keine Lösung einfiele – und genau darin liegt das Versagen eines heiß laufenden Politikbetriebes begründet, der sich mit seinen Reparaturmaßnahmen selbst ständig zu überholen trachtet.

Ordnungsdenken ade

Die Mietpreisbremse ist auch so ein Musterbeispiel: Nicht eine Wohnung wird dadurch mehr gebaut, eher weniger Wohnungen werden neu entstehen. Die Knappheit wird nicht mehr als verwaltet – das aber mit großen Worten und hohen Ansprüchen und zum langfristigen Schaden der Mieter. Politik im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft hatte unter Erhard die Aufgabe, dass sich zugleich mit dem Herstellen marktwirtschaftlicher Ordnung die soziale Lage der Bevölkerung verbessert, sich Wohlstand für alle entwickeln kann.

Der Staat hält sich aus dem Wirtschaftsalltag heraus und setzt lediglich Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln, damit jeder möglichst aus eigener Kraft für sich sorgen kann. Das Mindestlohngesetz hätte vermutlich Erhards Billigung gefunden – sofern niedrige Löhne durch ausbeuterisches Verhalten von dominierenden Großunternehmen zustande kommen und letztlich durch den Missbrauch wirtschaftlicher Macht nach unten gedrückt werden.

Tatsächlich jedoch werden weder in den Metropolen noch von den Großunternehmen Löhne unter dem Mindestlohn bezahlt. Entsprechende Fälle in nennenswerter Zahl gibt es vor allem in wirtschaftlich prekären Regionen, vielfach bei einfachen Tätigkeiten im öffentlichen Bereich und in den allermeisten Fällen für beruflich wenig qualifizierte Arbeitskräfte. Erhard hätte davor gewarnt, dass gut gemeinte Mindestlöhne vielen Begünstigten letztlich den Arbeitsplatz kosten können. Dass die Lohnfindung politisiert und – statt zwischen Arbeitgebern und Arbeitgebern ausgehandelt – Gegenstand von Wahlkämpfen wird, das kann beim besten Willen nicht als zielführende Ordnung des Arbeitsmarkts bezeichnet werden.

Wie lautet also das Urteil über die Arbeit der Großen Koalition im Sinne Ludwig Erhards? Sicherlich hätte er viele Ziele anerkannt. Aber der Weg zu „Wohlstand für Alle“ ist dies nicht, sondern viel eher ein übereifriges Herumdoktern aus einem vermeintlichen wirtschaftspolitischen Allmachtsgefühl heraus. Erhard hätte das vermutlich Gefälligkeitspolitik genannt: Als gemeinsames Ziel ist immer nur der nächste Wahltermin erkennbar, aber keine dauerhafte Ordnung von Wirtschaft und Politik. Vergleichbare Kämpfe hat Ludwig Erhard zu seiner Zeit ausgestanden – gegen die frühe SPD, die die notwendige Korrektur erst durch das Godesberger Programm eingeleitet und unter Karl Schiller umgesetzt hat.

Vor diesem Hintergrund ist derzeit zweierlei bemerkenswert: einerseits der Rückfall der SPD in eine Frühzeit von Wirtschaftsfeindlichkeit und Umverteilung durch Sozialbürokratien und andererseits die oft beschriebene Sozialdemokratisierung der Union. Aber es geht hier noch um weit mehr als Wirtschaft und Sozialpolitik. Obwohl die überwiegende Zahl der Menschen heute wohlhabender und dadurch selbstbestimmter ist – oder sein könnte – als zu Zeiten Ludwig Erhards, zeigt sich staatliches Vorgehen zunehmend als bevormundend und besserwisserisch.

Die Bürgerinnen und Bürger sehen sich immer mehr als Objekte staatlichen Handelns und immer weniger als freie Subjekte wahrgenommen – die freie Selbstbestimmung tritt in den Hintergrund zugunsten von Bevormundung und Betreuung. Das Bild des Menschen als solches hat sich gewandelt in unserer Gesellschaft. Darüber sollten wir nachdenken und diskutieren, denn dies geht tiefer als das eine oder andere mehr oder weniger gelungene neue Gesetz in Sachen „soziale Gerechtigkeit“.

Dieser Text ist gemeinsam mit einem Beitrag von Dr. Hans Kremendahl von der Karl-Schiller-Stiftung in „Der Hauptstadtbrief“ Ausgabe 124 erschienen.

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