Sie nannten ihn „den Dicken“ zu einer Zeit nach dem großen Hunger, in der das bewundernd gemeint war. Mit seiner ständig qualmenden Zigarre (ein Dutzend am Tag) wurde er als „Vater des Wirtschaftswunders“ verehrt; sein Buch „Wohlstand für Alle“ verkauft sich noch heute. Und ausgerechnet dieser Ludwig Erhard – ein Feind ständigen Wirtschaftswachstums? Der Prediger des Konsums ein heimlicher Konsumverächter?

Es ist tatsächlich so. Erhard hat die spätere Wachstumskritik bereits vorweggenommen. Er lehnte Wirtschaftswachstum als generelles, schon gar als staatliches Ziel ab: Jeder Einzelne habe zu entscheiden, ob er mehr arbeiten wolle oder eben weniger. Wozu also künstlich Wachstum generieren, wenn die Menschen stattdessen etwa Freizeit wollen?

„Mit steigender Produktivität und mit der höheren Effizienz der menschlichen Arbeit werden wir einmal in eine Phase der Entwicklung kommen, in der wir uns fragen müssen, was denn eigentlich kostbarer oder wertvoller ist: noch mehr zu arbeiten oder ein bequemeres, schöneres und freieres Leben zu führen, dabei vielleicht bewusst auf manchen güterwirtschaftlichen Genuss verzichten zu wollen (Ludwig Erhard 1957).“

Ludwig Erhard versus Karl Schiller: eine noch immer aktuelle Kontroverse

Im Foyer des Bundeswirtschaftsministeriums in Berlin begrüßt eine Büste von Ludwig Erhard die Besucher. Im Sommer erhielt der legendäre Wirtschaftsminister (von 1949 bis 1963) und Bundeskanzler der CDU (1963 bis 1966) einen Nachbarn: Karl Schiller, Wirtschaftsminister der SPD von 1966 bis 1972. Es ist mehr als der Kampf von Parteien um die Deutungshoheit. Die damalige Kontroverse Erhard/Schiller prägt in ihren Folgen die Gegenwart von Staatsverschuldung und expansiver Geldpolitik.

Erhard hatte 1964 ein „Stabilitätsgesetz“ mit dem Ziel formuliert, die öffentlichen Haushalte vor wachsender Staatsverschuldung zu schützen und den Geldwert zu sichern. Er verlor sein Amt, auch, weil er keine zusätzlichen Schulden machen wollte. Karl Schiller formulierte 1967 ein Gesetz mit ähnlichem Namen, aber vollkommen anderer Stoßrichtung: das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft“. Seither muss der Staat für ein beständiges Wirtschaftswachstum sorgen – und zwar durch Staatsverschuldung, wie es der britische Ökonom John Maynard Keynes skizziert hatte.

Die Schulden haben ruinöse Umfänge erreicht

Wachstum erlangte damit Gesetzeskraft nicht nur in Deutschland – es war global schick, Keynesianer zu sein. Das Ergebnis ist bekannt: Schon zehn Jahre später stieg der Anteil der öffentlichen Schulden am Bruttosozialprodukt sprunghaft an und erhöhte sich bis auf über 80 Prozent. Die grandiose Zielverfehlung in Form abschwächenden Wachstums und steigender Arbeitslosigkeit bei wachsender Verschuldung führte nicht zu einer Korrektur der Politik, sondern nur zu höherem Mitteleinsatz. Diese Story lässt sich mit anderen Namen in allen westlichen Ländern erzählen. Auch in den Konsequenzen. Spätestens seit 2002 wurde klar, dass Schulden kein nachhaltiges Wachstum erzeugen, aber ruinöse Umfänge erreicht haben.

Die Antwort war nicht Abkehr vom Wachstumsfetisch. Vielmehr wird seither die Geldpolitik für Wirtschaftswachstum instrumentalisiert: Nicht mehr der Geldwert steht seither im Zentrum der amerikanischen Notenbank Fed oder der Europäischen Zentralbank, sondern die Wachstumsförderung und notfalls die Inflation als Mittel zur Wachstumssteigerung. Ähnlich wie zuvor die Verschuldungspolitik in den 1990er Jahren ist auch sie am Ende ihrer Wirksamkeit angelangt: Die Zinsen liegen bei null, die Instrumente sind ausgereizt.

Diese historischen Zahlen machen schaudern angesichts der Bemühungen der Federal Reserve, der Bank of Japan, der Bank of England oder der Bank of China und der Europäischen Zentralbank, die anstelle der überdehnten Fiskalpolitik jetzt die „Wachstums-Arbeit“ übernommen haben. Wenn also Karl Schiller heute neben Ludwig Erhard steht, ist es eine indirekte Botschaft, die zu neuer Bescheidenheit aufruft: Staatlich produziertes Wachstum ist keine Wunderwaffe. Nur die Schulden bleiben, und ein Ende der problematischen Geldpolitik ist nicht absehbar. Der Dicke mit der Zigarre hat das wohl geahnt: Wachstum ist nicht alles, im Gegenteil.

Dieser Text von Roland Tichy, Vorsitzender der Ludwig-Erhard-Stiftung, ist eine leicht abgewandelte Fassung seines Beitrags, der bei Xing erschienen ist.

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