Es ist eine Herkulestat des Finanzministers, wenn er im Haushaltsvollzug ohne Kreditaufnahme auskommt. Das ist kein Lippenbekenntnis, auch wenn die folgende Analyse den deutschen Spar-Mythos kritisch hinterfragt.

Nicht ohne Grund sind seit eineinhalb Generationen oder 45 Jahren viele Bundesfinanzminister an der Aufgabe gescheitert, einen ausgeglichenen Staatshaushalt aufzustellen, obwohl die meisten diese solide Absicht hegten. Wolfgang Schäuble, dem dienstältesten Abgeordneten des Deutschen Bundestags, ist es im reifen Alter als Finanzminister immerhin schon gelungen, den Haushaltsplan für 2015 ohne neue Schulden aufzustellen und durch das Parlament zu bringen. Ob der Plan den Praxistest im kommenden Jahr allerdings tatsächlich bestehen wird, hängt vor allem von der wirtschaftlichen Entwicklung und nicht zuletzt vom finanzpolitischen Handeln der Großen Koalition ab. Denn man rufe sich einen Satz ins Gedächtnis, der dem österreichischen Ökonomen und Politiker Joseph Schumpeter zugeschrieben wird und in dem sich die ganze Skepsis gegenüber einer schuldenfreien Politik manifestiert: „Eher legt sich ein Hund einen Wurstvorrat an als eine demokratische Regierung eine Budgetreserve.“

Haushaltsdisziplin oder Spar-Mythos?

Politik hat viel mit Erzählkunst zu tun, mit Inszenierung, mit Mythen. Die „schwarze Null“ ist der Narrativ der Großen Koalition, vor allem der Union. Sie wird gefeiert und hochgehalten, auch wenn verbreitet Kritik auf das angebliche „deutsche Spardiktat“ prasselt. Ob in der G20-Runde, ob vom Internationalen Währungsfonds, ob in der Europäischen Kommission, ob von der französischen oder italienischen Regierung oder gar von der kleinen parlamentarischen Opposition im Bundestag: Fast überall ertönt harsche Kritik am Sparen der Deutschen, die damit der Konjunktur einen Bärendienst erweisen würden. Statt in die Zukunft zu investieren, vor allem in Infrastruktur und Bildung, sparten die Deutschen Europa in die Stagnation. Weil Angela Merkel und Wolfgang Schäuble verbal dagegenhalten und bis auf kleinere Ausnahmen auch die SPD offiziell mitspielt, verstärkt das noch den deutschen Spar-Mythos.

Doch die Wahrheit sieht leider anders aus. Erspart hat sich Deutschland vor allem Zinsausgaben. Die Zinsersparnis liegt gemessen an den ursprünglichen Ausgabenplanungen für die Kreditfinanzierung des Bundes in einer Größenordnung von rund 15 Milliarden Euro jährlich. Eine gigantische Summe, die etwa fünf Prozent des Bundeshaushalts 2015 ausmacht. Noch im Jahr 2008 musste der Bundesfinanzminister für eine um rund 200 Milliarden Euro niedrigere Gesamtverschuldung knapp über 40 Milliarden Euro Zinsausgaben etatisieren. Für das kommende Jahr betragen die eingeplanten Ausgaben für Zinsen gerade mal 25 Milliarden Euro. So lässt sich das unterdurchschnittliche nominale Wachstum der Staatsausgaben auch beschönigen. Dank der Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank werden die privaten Sparer mit Substanzverlust, sprich: partieller Enteignung bestraft, während sich die Finanzminister von Bund und Ländern über die nominale Verbilligung ihrer immer noch steigenden Gesamtverschuldung freuen.

Erinnert sich jemand noch an die Debatten vor vier Jahren, als die Euro-Krise am Beispiel Griechenlands ins öffentliche Bewusstsein drang? Bei der Ursachenforschung der griechischen Staatsüberschuldung wurde von deutschen Politikern quer durch alle Lager beklagt, dass die Hellenen – Staat wie Bürger – die Zinsrendite nach der Euro-Einführung im Jahr 2001 nicht zur Konsolidierung nutzten. Stattdessen hätten sie sich durch den billigen Zins erst recht neue kreditfinanzierte Wohltaten gegönnt. Da die Refinanzierung der alten Schulden so günstig wurde, machten neue Schulden scheinbar keine Probleme.

Verhält sich Deutschland heute strukturell anders als Griechenland damals? Eigentlich müssten beim aktuellen Rekordsteueraufkommen zweistellige Milliardenüberschüsse im Bundesetat verbucht werden können. Doch statt die gewaltige Zinsrendite für Haushaltsüberschüsse zu nutzen, feiert man die „schwarze Null“. Das ist Volksverdummung! Deutschland hätte die Finanzmasse für die Abschaffung der leistungsfeindlichen kalten Progression im Einkommensteuerrecht. Deutschland hätte auch die Mittel für Zukunftsinvestitionen im Bereich Bildung und Infrastruktur, wenn denn tatsächlich in den guten vergangenen vier Jahren konsolidiert worden wäre.

Soziale Leistungen verdrängen Zukunftsinvestitionen

Genau das Gegenteil ist passiert. Die Sozialausgaben des Staates wachsen überdurchschnittlich. Die Investitionen wurden ständig zurückgefahren. Soziale Leistungen, die Pensionen der Staatsdiener und der Bundeszuschuss an die Rentenversicherung inbegriffen, verdrängen faktisch Investitionen. Die Liste sozialpolitischer Wohltaten ist lang. Jahrelange Verteilungsgerechtigkeitsdebatten, die auf die Reformdynamik der Agenda 2010 der frühen 2000er Jahre folgten, bescherten Deutschland einen linken Zeitgeist, der das Verteilen vor das Verdienen setzt. Von der Abschaffung der Praxisgebühr – noch mit FDP-Regierungsbeteiligung – über die Mütterrente und die Rente für langjährig Versicherte mit 63 bis zur Ausweitung der Leistungen in der Pflegeversicherung reicht das Wohlfühlpaket. Allein das Rentenpaket kostet jährlich deutlich über zehn Milliarden Euro. Statt die nur noch kurze demographische Schonzeit in der Rentenversicherung für Beitragssatzsenkungen zu nutzen und damit die Nettoeinkommen der Beschäftigten zu steigern, wurden gewaltige Mehrausgaben beschlossen. Ein Irrsinn, wenn man an die Babyboomer-Generation denkt, die zwischen 1950 und 1970 geboren wurde und bis 2035 massenhaft in Rente gehen wird. Pikant übrigens, dass der Bundesfinanzminister für seine schwarze Null im Bundeshaushalt 2015 auch die aktuell noch gute Kassenlage der Rentenversicherung nutzt und den Bundeszuschuss im kommenden Jahr kürzt.

Deutschland leidet nicht unter einem Spardiktat, sondern an einer Ausweitung der Ausgaben für soziale Wohltaten. Wer nicht spart, kann nicht investieren. Sparen und Investieren sind die zwei Seiten der volkswirtschaftlichen Medaille. Mit einer weiteren Ausweitung konsumtiver Leistungen reduzieren wir unsere Fähigkeit, den Kapitalstock der Volkswirtschaft durch Investitionen in Bildung und Infrastruktur für künftiges Wachstum zu erhalten und aufzubauen. Dazu bedarf es aber einer Haltung, die das Primat beim Erwirtschaften, nicht beim Verteilen sieht. Oder in den Worten Ludwig Erhards: Jede „‚Wohltat‘ muss das Volk immer teuer bezahlen, weil kein Staat den Bürgern mehr geben kann, als er ihnen vorher abgenommen hat“.

Dieser Artikel erscheint auch in gedruckter Form in der Dezember-Ausgabe der „Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik“.

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